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Afrikas geraubtes Kulturerbe

Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy erläuterte im Rahmen der DHC Lecture an der Freien Universität den Bericht, den sie gemeinsam mit dem senegalesischen Ökonomen und Essayisten Felwine Sarr im Auftrag des französischen Präsidenten verfasst hat

16.01.2019

„Out of Africa" – das afrikanische Kulturerbe ist in europäischen Museen ausgestellt. Wann und auf welchen Wegen die Objekte dort hinkamen, berichtete Bénédicte Savy in ihrem Vortrag. Eine Filmszene aus „Black Panther“ diente ihr als Einstieg.

„Out of Africa" – das afrikanische Kulturerbe ist in europäischen Museen ausgestellt. Wann und auf welchen Wegen die Objekte dort hinkamen, berichtete Bénédicte Savy in ihrem Vortrag. Eine Filmszene aus „Black Panther“ diente ihr als Einstieg.
Bildquelle: Nina Diezemann

Eine Szene aus dem US-amerikanischen Kinofilm „Black Panther“: Ein junger Mann, dessen Vorfahren aus Afrika stammen, steht im British Museum vor einer Vitrine. Hinter dem dicken Glas hängen afrikanische Masken, Waffen und andere Kultobjekte. Eine arrogant wirkende Museumsangestellte erklärt ihm die Herkunft der Ausstellungsstücke: Ghana, Benin, 19. Jahrhundert. Der Mann sieht die Frau eindringlich an: „Und was glauben Sie, wie Ihre Vorfahren sie bekommen haben?“

Mit der Filmszene und der Frage eröffnete Bénédicte Savoy ihren Vortrag am vergangenen Donnerstag im voll besetzten Hörsaal 1b an der Freien Universität. Die Professorin für Kunstgeschichte lehrt an der Technischen Universität Berlin und am Collège de France in Paris. Auf Einladung des Dahlem Humanities Center der Freien Universität gab sie Antworten auf die Frage nach der Herkunft afrikanischer Objekte in europäischen Museen – der Titel ihres Vortrags: „Out of Africa. Wie afrikanische Objekte in unsere Museen kamen“.

„90 Prozent des Kulturerbes Afrikas befindet sich außerhalb von Afrika“

Im vergangenen Jahr hatten Bénédicte Savoy und der senegalesische Wissenschaftler und Autor Felwine Sarr verschiedene afrikanische Länder bereist und unter anderem das Inventar des Pariser Musée du Quai Branly, des nationalen französischen Museums für außereuropäische Kunst, dokumentiert. Im Auftrag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sollten die beiden Wissenschaftler untersuchen, ob Frankreich Kunstobjekte an afrikanische Länder südlich der Sahara zurückgeben kann und soll. Der Abschlussbericht, den Savoy und Sarr im November vorlegten, sorgte mit seinen Empfehlungen für Aufsehen: Alle während der Kolonialzeit geraubten Kulturgüter sollten restituiert werden – wenn die afrikanischen Länder die Rückgabe wünschen.

Gemeinsam mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr hat die französische Kunsthistorikerin die Studie im Auftrag des französischen Präsidenten verfasst.

Gemeinsam mit dem senegalesischen Wissenschaftler Felwine Sarr hat die französische Kunsthistorikerin die Studie im Auftrag des französischen Präsidenten verfasst.
Bildquelle: Amely Schneider

„90 Prozent des Kulturerbes Afrikas befindet sich nach Einschätzung von Spezialisten außerhalb von Afrika“, sagte Savoy. Es gehe darum, „ein krasses Ungleichgewicht auszugleichen“: Der Westen habe alles, Afrika fast nichts. Savoy zeigte in ihrem Vortrag anhand vieler historischer Dokumente, wie im Zuge der Kolonialisierung zwischen 1885 und 1960 Militär, Wissenschaftler, Missionare und Handelsleute unzählige Gegenstände aus Afrika nach Europa verschifften, die dort in Museen, Privatsammlungen und den Kunsthandel gelangten.

Bénédicte Savoy antwortet ihren Kritikern

Als Befürworterin der Rückgabe afrikanischer Kunst wurde Savoy in den vergangenen Monaten immer wieder kritisiert. Einen häufig vorgebrachten Einwand, nämlich dass die meisten Kunstschätze entweder vor oder erst nach der Kolonialzeit in europäische Museen gekommen seien, widerlegt die Wissenschaftlerin durch Fakten: Ihre Recherchen haben ergeben, dass die etwa 90 000 Objekte, die heute in französischen Museen zu finden sind, eindeutig während der Zeit der Kolonialisierung, also zwischen 1885 und 1960, nach Europa kamen. Zwei Drittel davon befinden sich allein im Musée du Quai Branly in Paris, dem größten ethnologischen Museum Frankreichs. „Der geografische Ursprung dieser Objekte ist ein Spiegel der französischen Herrschaft auf dem afrikanischen Kontinent“, sagte Savoy. Sie stammten vor allem aus dem Tschad, aus Mali und Kamerun. Aus den damals britisch und deutsch kolonialisierten Gebieten gibt es dagegen fast nichts aus dieser Zeit in französischen Museen.

Untersuchungen des Inventars des Stuttgarter Linden-Museums stützen die französischen Recherchen

Dafür zeigt sich in Großbritannien und Deutschland das umgekehrte Bild: Eine aktuelle Studie der Provenienzforscherin Gesa Grimme für das Linden-Museum in Stuttgart – eines der größten Völkerkundemuseen Europas – ergab, dass 90 Prozent der Objekte zwischen 1884 und 1920 in die dortige Sammlung gekommen sind. Der Großteil stammt aus den Gebieten, in denen das Deutsche Reich in dieser Zeit als Kolonialmacht auftrat: Kamerun, das Bismarck-Archipel oder Namibia.

„Museen waren schon immer politisch und werden es immer sein“, sagte Savoy und schilderte, wie um 1885, als die Europäer auf der Berlin-Konferenz den afrikanischen Kontinent unter sich aufteilten, überall in Europa neue Museen entstanden: 1886 wurde in Berlin in der Königgrätzer Straße (heute Stresemannstraße) das „Königliche Museum für Völkerkunde“ eröffnet; das British Museum in London führte etwa zur selben Zeit die ethnologischen Sammlungen in der zweiten Etage des Gebäudes zusammen. Paris war etwas früher: Dort waren die Sammlungen bereits 1878 vom Louvre in den eigens für die Weltausstellung errichteten Palais du Trocadéro umgesiedelt worden. Auch in anderen europäischen Städten entstanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts sogenannte Kolonialmuseen.

Wichtige Lieferanten für diese Sammlungen waren Vertreter des Militärs. Manche Museen gaben vor Kriegszügen nach Afrika regelrecht „Bestellungen“ auf. Auch bei wissenschaftlichen Expeditionen wurden Tausende Gegenstände erbeutet; Missionare, die durch ihre Arbeit engen Kontakt zu Privatpersonen hatten, kamen darüber in den Besitz afrikanischer Kunstwerke. Wie zielgerichtet und skrupellos die Europäer dabei vorgingen, zeigte Savoy anhand von Quellen, Berichten und Korrespondenzen. So schildert der Pariser Schriftsteller und Ethnologe Michel Leiris mit einigem Abscheu – er hatte in den 1930er Jahren an der großen Expedition von Dakar nach Djibouti teilgenommen –, wie dort Forscher heilige Stätten geplündert und Eingeborene mit vorgehaltenem Messer gezwungen hätten, Fetische abzugeben.

„Kollektive Amnesie“

„Aber es war doch nicht alles Raubgut!“, laute ein weiterer Einwand, den Savoy immer wieder zu hören bekommt. Tatsächlich seien manche Kunstschätze auch getauscht oder gekauft worden, sagt die Kunsthistorikerin – allerdings nicht zu angemessenen Preisen: So sei 1931 für eine afrikanische Maske, die heute im Musée du Quai Branly zu sehen ist, sieben Franc gezahlt worden. Das entsprach damals dem Preis für zwölf Eier.

„Ich bin in einer Zeit in Frankreich aufgewachsen, in der man lieber nicht allzu viel darüber erzählte, wie diese Objekte zu uns gekommen sind“, erinnert sich die 1972 geborene Bénédicte Savoy. Wie ein „Familiengeheimnis“, über das man schweigt, das „auf einem lastet, einen prägt – und irgendwann auffliegt“. Als „kollektive Amnesie“ beschreibt sie diese Zeit. Savoy erinnert jedoch auch an eine Phase der Öffnung, die man in Frankreich schon völlig vergessen hatte: Schon Ende der 1970er Jahre hätte es zu Restitutionen an Afrika kommen können. Die Wissenschaftlerin zeigte in ihrem Vortrag einen Ausschnitt aus einer französischen Nachrichtensendung aus dem Jahr 1978. Sie selbst war damals sechs Jahre alt und saß, so vermutete sie, wie jeden Abend mit ihrer Familie bei den Hauptnachrichten vor dem Fernseher, als der bekannte Moderator von TF1, Roger Gicquel, sich öffentlich für die Rückgabe von afrikanischer Kunst aussprach.

Ein Vorstoß, der offenbar folgenlos blieb: Während ihrer Arbeit für die französische Regierung im vergangenen Jahr fanden Savoy und Sarr in den Archiven stapelweise unausgefüllte Formulare, die die UNESCO in den siebziger Jahren in drei Sprachen gedruckt hatte, um Restitutionsanträge zu unterstützen. Der Moment der gesellschaftlichen Öffnung blieb ohne Konsequenzen.

Afrikas Jugend wächst ohne Kontakt zum eigenen Kulturerbe auf

Das soll sich nun, 40 Jahre später, grundlegend ändern. Savoy und Sarr sind dafür nach Mali, in den Senegal, nach Kamerun und Benin gereist. Sie haben dort Museen besucht, in denen das, was die Europäer einst verschleppt haben, künftig ausgestellt sein könnte. „Dort wird einem die Anwesenheit der Abwesenheit bewusst“, sagte Savoy und zeigte das Bild des karg eingerichteten Museums der Königspaläste von Abomey im heutigen Benin: leere Gänge, nur einige wenige Ausstellungsstücke. Während westliche Museen aus üppigen afrikanischen Sammlungen schöpfen, ist in den Ursprungsländern fast nichts vom eigenen kulturellen Erbe übriggeblieben, das ausgestellt werden könnte.

Dabei habe vor allem die Jugend Afrikas ein Recht darauf, sagte Savoy. „Kaum auszuhalten“ findet sie den Gedanken, dass nachwachsende Generationen nicht an den reichen Schöpfungen ihrer Vorfahren teilhaben können. Jugendliche aus Mali könnten nicht eben mal nach London, Paris oder Berlin fliegen, um das Kulturerbe ihres Landes zu sehen. „Selbst das, was in den 1930er Jahren entstanden ist, ist nicht dort“, sagte die Kunsthistorikerin. So hätten junge Menschen in Afrika nicht einmal Kontakt zu dem, was ihre Großeltern-Generation hinterlassen habe. „Das muss sich ändern“, sagte Bénédicte Savoy entschieden.

Bénédicte Savoy: Ganz Europa muss die Provenienzdebatte führen

Unmittelbar im Anschluss an den vorgelegten Bericht der beiden Wissenschaftler hat Frankreich 26 Werke an Benin zurückgegeben, die der westafrikanische Staat schon lange eingefordert hatte. Noch in diesem Jahr will Staatspräsident Macron ein Treffen mit afrikanischen, aber auch europäischen Partnern organisieren, um über den Austausch von Kunstwerken zu sprechen. Denn natürlich betrifft das Thema nicht nur Frankreich, sondern auch andere westliche Länder, die in Afrika Kolonien hatten: Großbritannien, Portugal, Spanien, Italien, Belgien und Deutschland. „Eine europäische Familienangelegenheit“, nennt Savoy die anstehende Provenienzdebatte.