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Wo bleibt der Rasenmäher?

Das neugegründete Projekt „Blühender Campus“ setzt sich für mehr Artenvielfalt auf den Grünflächen der Freien Universität ein

14.06.2019

Bitte nicht mähen! Blühende Wiesen sollen die Artenvielfalt auf den Grünflächen der Freien Universität fördern.

Bitte nicht mähen! Blühende Wiesen sollen die Artenvielfalt auf den Grünflächen der Freien Universität fördern.
Bildquelle: Sören Maahs

Die Anzeichen, dass wir in einer Zeit rapiden Insektensterbens leben, verdichten sich: In den vergangenen 30 Jahren ist die Biomasse allein an Fluginsekten selbst in Naturschutzgebieten um 70 bis 80 Prozent zurückgegangen. „Um die Tragweite dieses Befundes zu verstehen, muss man sich die Rolle der Insekten für das Leben auf diesem Planeten vor Augen halten“, sagt Sophie Lokatis. „Sie bestäuben 80 Prozent aller Blütenpflanzen, darüber hinaus zahlreiche Nutzpflanzen, beispielsweise Obstbäume und einige Ackerkulturen.“ Mehr als 60 Prozent aller beschriebenen Tierarten sind Insekten. Im Haushalt der Natur übernehmen sie zentrale Aufgaben, vor allem als Zersetzer, die neue Nährstoffe erzeugen und in den Lebenskreislauf zurückführen. „Nimmt die Zahl der Insekten ab, setzt eine Kettenreaktion ein, die die Nahrungskette vieler Lebewesen so entscheidend verändert, dass die Stabilität globaler Ökosysteme zu kippen droht.“

Eine der Hauptursachen für die massiven Populationseinbrüche ist der schwindende Lebensraum für Insekten. Dagegen möchte die neugegründete Initiative „Blühender Campus“ etwas unternehmen, und zwar direkt vor der eigenen Haustür: auf dem Campus Dahlem der Freien Universität. Initiiert wurde der „Blühende Campus“ neben anderen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Fachbereichs Biologie, Chemie und Pharmazie.

Sophie Lokatis ist eine von ihnen. Die Doktorandin in der Arbeitsgruppe „Ecological Novelty“ setzt sich dafür ein, dass auch in von Menschen genutzten Gebieten artenreiche Lebensräume entstehen: „Städtische Siedlungen werden für Tiere und Pflanzen zunehmend wichtiger, weil die Intensivierung der Landwirtschaft immer mehr Pflanzenarten verdrängt.“ Durch nachhaltige Wiesenpflege könnten in der Stadt viele Pflanzen, Insekten und Vögel eine Zuflucht finden. „Die Grünflächen der Freien Universität auf dem Campus Dahlem haben dafür ein großes Potenzial“, pflichtet Andreas Wanke, der Leiter der Stabstelle für Nachhaltigkeit & Energie, bei. Und nicht nur Tiere und Pflanzen profitieren in seinen Augen. Auch für die Menschen kann eine Wildblumenwiese mit Zitronenfaltern und Tagpfauenaugen attraktiver sein als ein geschorener Rasen.

Setzen sich für die Förderung der Arten auf dem Campus ein: Andreas Wanke, Sophie Lokatis, Simon Huesmann und Anja Proske

Setzen sich für die Förderung der Arten auf dem Campus ein: Andreas Wanke, Sophie Lokatis, Simon Huesmann und Anja Proske
Bildquelle: Sören Maahs

Stummer Rasen, summende Wiesen

Der Campus Dahlem besteht zu einem erheblichen Teil aus Grünflächen, die das Erscheinungsbild des Campus prägen. Leider sehen die meisten dieser grünen Inseln zwischen den Universitätsbauten nicht so aus, wie sich das Sophie Lokatis wünschen würde: „Ein getrimmter Rasen macht zwar einen ordentlichen Eindruck, trägt jedoch nichts zur Artenvielfalt bei.“

Nun wurden Anfang Mai an elf Standorten Versuchsareale von je 100 bis 400 Quadratmetern für das Pilotprojekt „Blühender Campus“ reserviert. Zwei Studierende des Masterstudiengangs „Biodiversität, Evolution und Ökologie“ begleiten das Projekt mit wissenschaftlichen Vergleichsstudien. Um die Auswirkung des Mähens auf die Artenvielfalt zu dokumentieren, vergleichen Anja Proske und Simon Huesmann die Artenzusammensetzung der ungemähten Versuchsflächen mit den regelmäßig gestutzten Kontrollarealen. Die beiden wollen wissen, inwieweit sich das veränderte Pflegekonzept auf die Pflanzen- und Insektenvielfalt auswirkt.

Bestäuber brauchen Blüten

Mit dem Wiesenschnitt verlieren Insekten Jahr für Jahr ihre Futterquellen. Zu frühes und häufiges Mähen verhindere, dass die Kräuter im Rasen zur Blüte gelangten, sagt Anja Proske. Auf einem kurz gehaltenen Rasen fänden Insekten kein Futter, keine Nistmöglichkeiten und keine Überwinterungsplätze. „Das lässt sich aber leicht ändern: Dort, wo der Rasen nicht als Spiel- oder Ruheplatz genutzt wird, kann man ihn zur Wiese hochwachsen lassen.“ Die blütenreichen Wildkräuterflächen förderten auch das Überleben der 300 in Berlin lebenden, zur Hälfte vom Aussterben bedrohten Wildbienenarten. „Idealerweise“, sagt Simon Huesmann, „sollte vom frühen Frühling bis in den Spätherbst immer etwas blühen.“

Blühende Wiesen seien wenig pflegeintensiv und ein naturschutzorientiertes Mähen leicht umsetzbar und kostengünstig, sagt Sophie Lokatis. Darüber hinaus könnten sie in heißen Sommern Hitze besser absorbieren, mehr Feinstaub filtern und sich damit positiv auf das Mikroklima in der Umgebung auswirken. Eine Wildblumenwiese werde niemals gedüngt. „Gemäht wird höchstens zweimal im Jahr nach der Hauptblüte zwischen Juli und August.“ Bislang würden die Grünflächen der Freien Universität bis zu neun Mal im Jahr geschnitten.

Ungemähte Wiese vor der Veggie-Mensa in der Van't-Hoff-Straße.

Ungemähte Wiese vor der Veggie-Mensa in der Van't-Hoff-Straße.
Bildquelle: Sören Maahs

Ökologische und ästhetische Qualitäten können auf derselben Wiese erreicht werden

Blühende Wiesen brächten zudem Farbe auf den Campus. „Leider begegne ich aber hin und wieder einem gewissen Unmut gegenüber naturbelassenen Wiesen innerhalb der Stadt, die von manchen als ungepflegt und verwildert betrachtet werden“, sagt Sophie Lokatis. Einer solchen kritischen Einstellung möchten die Initiatoren des Projekts durch campusweite Aufklärungsarbeit begegnen. Andreas Wanke ist zuversichtlich, dass das gelingen wird: „Immer mehr Menschen verabschieden sich vom ästhetischen Ideal des englischen Rasens und sind offen für eine ökologische Grünpflege.“ Den besonderen Wert der Initiative mache zudem aus, dass es ein klassisches Living-Lab-Projekt sei, in dem Forschung, Studierende, Nachhaltigkeitsinitiativen und Verwaltung zusammenarbeiten. Eine solch breit verankerte Initiative, die auch von einem zivilgesellschaftlichen Engagement getragen ist, sei für eine Universität ein Glücksfall, so Andreas Wanke.

Damit artenreiche Wiesen nicht als Zeichen mangelnder Landschaftspflege missverstanden werden, plädieren Sophie Lokatis und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter dafür, den Wildblumenwiesen einen gestalteten Rahmen zu geben: So könnten etwa gemähte Streifen entlang der Wege zeigen, dass die Wiese durchaus gepflegt und nicht der Verwahrlosung anheimgefallen ist. Infotafeln sollen Universitätsangehörige, Anwohner und Passanten über die Bedeutung der Wildblumenareale für die Natur aufklären.

Die Umwandlung von Rasenflächen in lebendige Wildblumenwiesen brauche Zeit, da sind sich die Initiatoren der Aktion „Blühender Campus“ einig. Denn ohne eine tiefgreifende Umgestaltung – Abtragen der Grasnarbe und neue Einsaat – sei die Zuwanderung wiesentypischer Blumen vom Samenflug aus der unmittelbaren Umgebung abhängig. Erste Erfolge sind trotzdem schon sichtbar. Auf der Wiese vor dem Institut für Japanologie in der Hittorfstraße 18 etwa und in der Thielallee 63 zwischen Rechtswissenschaft und Biochemie gedeihen Margeriten, Lichtnelken, Glockenblumen, Klatschmohn, Vogelwicke, Schafgarbe, Wiesensalbei und Wilde Möhre. Sie sind nicht nur hübsch anzuschauen, sondern äußerst bedeutsam für die Biodiversität – und eine begehrte Futterquelle für Wildbienen.

Weitere Informationen

Die Initiative „Blühender Campus“ möchte gern weitere Hochschulangehörige zur Teilnahme motivieren. Interessierte können sich bei der Stabsstelle Nachhaltigkeit & Energie melden.

Gestartet wurde der „blühende Campus“ von Professor Jens Rolff, Sophie Lokatis, der Nachhaltigkeitsinitiative Sustain it! sowie der Stabsstelle Nachhaltigkeit & Energie der Freien Universität. Ziel des breit verankerten Projekts ist es, über Fach- und Institutsgrenzen hinweg Akteurinnen und Akteure zu vernetzen, die sich der Förderung von Artenvielfalt und Campusnatur widmen. Beteiligt sind mittlerweile auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende aus der Geographie, Bioinformatik, Erziehungswissenschaft, Politikwissenschaft, Veterinärmedizin, dem Center für Digitale Systeme (CeDiS) der Freien Universität und dem Botanischen Garten Berlin.