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Eine Krise – aber für wen?

Bei seinem Besuch an der Freien Universität mahnte Filippo Grandi, Hochkommissar des UN-Flüchtlingshilfswerks, Solidarität mit Flüchtlingen an

20.06.2019

UN-Hochkommissar Filippo Grandi: „Zwei Drittel sind Flüchtlinge in ihren eigenen Heimatländern. Dort findet die Flüchtlingskrise statt, nicht in Europa!“

UN-Hochkommissar Filippo Grandi: „Zwei Drittel sind Flüchtlinge in ihren eigenen Heimatländern. Dort findet die Flüchtlingskrise statt, nicht in Europa!“
Bildquelle: Felix Noak

Grandi sprach zwei Tage vor dem Weltflüchtlingstag, der jedes Jahr am 20. Juni begangen wird, an der Freien Universität Berlin. Eingebettet war sein Besuch in die International Week, die dort derzeit stattfindet.

Grandi sprach zwei Tage vor dem Weltflüchtlingstag, der jedes Jahr am 20. Juni begangen wird, an der Freien Universität Berlin. Eingebettet war sein Besuch in die International Week, die dort derzeit stattfindet.
Bildquelle: Felix Noak

Sie suchen Schutz vor Gewalt, Krieg, Not und Verfolgung. Weltweit sind derzeit fast 71 Millionen Menschen auf der Flucht. Damit hat das Ausmaß von Flucht und Vertreibung den höchsten Stand erreicht, den das 1950 gegründete Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) jemals registriert hat, sagte Filippo Grandi bei seinem Besuch an der Freien Universität an diesem Dienstag. Anlässlich des jährlich am 20. Juni begangenen Weltflüchtlingstags, der 2001 von den Vereinten Nationen eingeführt worden war, hielt der Hochkommissar des UNHCR eine Grundsatzrede vor 300 Gästen, darunter zahlreichen Studierenden, im Henry-Ford-Bau.

Vizepräsidentin Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott begrüßte UN-Hochkommissar Filippo Grandi an der Freien Universität Berlin.

Vizepräsidentin Prof. Dr. Verena Blechinger-Talcott begrüßte UN-Hochkommissar Filippo Grandi an der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Felix Noak

Flucht und Vertreibung hätten in den vergangenen Jahren in den meisten Regionen weltweit stetig zugenommen. Dafür führte Grandi drei Gründe an: Zum einen dauerten gewaltsame Konflikte länger als früher an: in Somalia und Afghanistan etwa seit drei, beziehungsweise vier Jahrzehnten. Zudem nähmen wiederaufflammende Konflikte zu, unter anderem in Südsudan, im Jemen, in der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik. Und schließlich sei in den vergangenen Jahren eine Vielzahl neuer Flüchtlingssituationen entstanden, die größte in Venezuela, wo schätzungsweise vier Millionen Menschen das Land verlassen hätten.

Die größte Bürde tragen nicht-westliche Länder

Filippo Grandi stellte klar, dass sich die große Mehrheit der Flüchtlinge außerhalb Europas aufhalte. Fast alle blieben in ihrer Heimatregion. Obwohl Europa von der weltweit wachsenden Flüchtlingszahl nur in geringem Maße betroffen sei, sprächen europäische Politiker heute von einer Krise, die nicht mehr zu bewältigen sei.

85 Prozent aller Flüchtlinge suchten in Ländern mit niedrigem bis mittlerem Einkommen Schutz. Viele dieser Staaten gehörten zu den ärmsten der Welt und grenzten direkt an die Konfliktgebiete. Mit einem Flüchtling auf sechs Einwohner habe der Libanon im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl mehr Flüchtlinge aufgenommen als jedes andere Land. „Die Krisen sind also in Ländern, die weit weniger Mittel für Hilfeleistungen haben als die Europäische Union. Zwei Drittel sind Flüchtlinge in ihren eigenen Heimatländern. Dort findet die Flüchtlingskrise statt, nicht in Europa!“

Grandi warnte deshalb davor, die Folgen der Migrationsbewegungen für Europa zu dramatisieren. Er kritisierte die aufgeheizte Politisierung des Asylthemas in vielen EU-Ländern, die gestiegenen Einschränkungen beim Zugang zu Schutz und die Kriminalisierung von Hilfe.

Krise der Solidarität in Europa

Wenn man von einer Krise in Europa sprechen könnte, so Grandi, dann von einer Krise der politischen Willensbildung: „Viele Fluchtursachen ließen sich mit ein wenig mehr politischem Willen und Einigkeit bei der Organisation gut lösen“, erklärte Grandi. Davon allerdings hätten die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zuletzt nicht viel gezeigt. Stattdessen folge auf jedes Auftauchen eines Flüchtlingsboots im Mittelmeer „kleinliches Gezänk“ darüber, welches Land die wenigsten Flüchtlinge aufnimmt. „Wenn das der Stand der europäischen Flüchtlingspolitik ist, dann haben wir in Europa keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität.“

Der UN-Flüchtlingskommissar bezeichnete die „Handlungsunfähigkeit“ der EU als inakzeptabel und appellierte an die Notwenigkeit zur Solidarität bei der Lösung von Krisen. Die Perspektive der EU sei zu sehr auf sich selbst gerichtet und nehme kaum war, welche Krisen sich im Rest der Welt abspielen. Auch wies er die „gänzlich verirrte“ Rhetorik zurück, wonach sich eine „Invasion“ in Europa abspiele. „Diese Art von vergifteter, manchmal rassistischer Sprache ist gefährlich, weil sie Flüchtlinge und Migranten zu Unrecht als Bedrohung darstellt und schließlich die Grundlagen der Freiheit unserer Gesellschaft untergräbt.“

Praktikable Lösungen hält er für absolut durchführbar. „Es braucht ein geregeltes, auf Solidarität gegründetes Aufnahmesystem.“ Von einem Abkommen indes mit Libyen nach dem Vorbild des Türkei-EU-Pakts könne keine Rede sein. Grandi sagte, dass das UNHCR momentan daran arbeite, die humanitäre Soforthilfe besser mit einer langfristigen Stabilisierung im Herkunftsland zu verbinden.

Studierende können eine zentrale Rolle in der europäischen Flüchtlingsdebatte spielen

Zudem forderte Filippo Grandi mehr Möglichkeiten für Wirtschaftsmigranten, auf legalem Weg nach Europa zu kommen. Denn nur ein Teil der Menschen, die das Mittelmeer überqueren, seien Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonventionen, sagte Grandi. Viele riskierten ihr Leben, weil sie – berechtigterweise – Arbeit und ein besseres Leben suchten. „Sie kommen, weil es einen reichen und einen armen Teil der Welt gibt. Das Komplizierte ist, dass beide Bewegungen zusammen verlaufen.“ Die öffentliche Debatte über Migration werde deshalb hitziger und unsachlicher, weil dieser Unterschied nicht mehr deutlich gemacht werde.

Zum Ende seiner Rede erklärte Filippo Grandi, dass der Schutz von Flüchtlingen nicht alleinige Verantwortung von Regierungen sei, sondern vielmehr eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Er lobte in diesem Zusammenhang gerade das zivilgesellschaftliche Engagement in armen Ländern: „Die Großherzigkeit, mit der die Bevölkerung von Bangladesch die aus Myanmar geflohenen Rohingya versorgt hat, war beispiellos. Und ein Vorbild für den reichen Teil der Welt.“

Auch Universitäten haben eine Aufgabe

In dem Gespräch mit dem Publikum, das sich an seine Rede anschloss, ermutigte Filippo Grandi die Studierenden der Freien Universität, sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe zu engagieren. Sie könnten Flüchtlingen zum Beispiel Sprachunterricht geben, denn die Sprache sei der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. Studierende könnten eine zentrale Rolle in der europäischen Debatte über Flüchtlinge spielen, und sie sollten auf Akzeptanz und Integration drängen, sagte der UN-Hochkommissar. Gleichzeitig forderte er die Universitäten auf, die weltweiten Flüchtlingskrisen gründlich zu analysieren, um der Stimmungsmache gegen Asylfragen entgegenzuwirken.