Springe direkt zu Inhalt

„… dass sie zuallererst Menschen sind“

Die Philosophin Seyla Benhabib hielt am Dahlem Humanities Center der Freien Universität die Hegel Lecture 2019

24.07.2019

Seyla Benhabib hat die Eugene-Meyer-Professur für Politische Wissenschaft und Philosophie an der Yale University inne.

Seyla Benhabib hat die Eugene-Meyer-Professur für Politische Wissenschaft und Philosophie an der Yale University inne.
Bildquelle: Nina Diezemann

In Zeiten globaler Migration ist Seyla Benhabib die Denkerin der Stunde: Seit bald 20 Jahren widmet sich die an der Yale University lehrende Philosophin Fragen zu Menschenrechten, Migration und Kosmopolitismus. Auf Einladung des Dahlem Humanities Centers (DHC) hielt die Philosophin Anfang Juni die diesjährige Hegel Lecture. In ihrem Vortrag verband sie eines der zentralen politischen Themen unserer Zeit – die Anerkennung der Rechte von Flüchtlingen – mit Hegels Begriff der Person.

Seit 2008 lädt das DHC international renommierte Vertreterinnen und Vertreter der Geisteswissenschaften ein, im Rahmen der Hegel Lecture an der Freien Universität zu referieren. Unter den bisherigen Vortragenden waren Judith Butler, Homi K. Bhabha und zuletzt Armin Nassehi. Im Zentrum der Lectures stehen Kernfragen und Schlüsselthemen der Geisteswissenschaften im 21. Jahrhundert: Thematisch geht es dabei immer wieder um den Dialog der Kulturen und Globalisierung, um Gerechtigkeit und Freiheit.

„Höhepunkt im Berliner Kultur- und Wissenskalender"

Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler begrüßte die rund 300 Zuhörerinnen und Zuhörer im Hörsaal 1b der Rostlaube. Die Hegel Lecture bezeichnet er als „außergewöhnlichen Anlass, der nicht nur die akademische Gemeinschaft der Freien Universität zusammenbringt, sondern auch Höhepunkt im Berliner Kultur- und Wissenskalender ist“. Das DHC biete aufgrund seiner vielfältigen Projekte, Veranstaltungen und Kooperationen Gelegenheiten des konstruktiven Austauschs und der Vernetzung verschiedener Disziplinen auch auf internationaler Ebene.

Führte in die Hegel Lecture und die Arbeit Seyla Benhabibs ein: Historiker Professor Dr. Paul Nolte, Sprecher des Dahlem Humanities Centers.

Führte in die Hegel Lecture und die Arbeit Seyla Benhabibs ein: Historiker Professor Dr. Paul Nolte, Sprecher des Dahlem Humanities Centers.
Bildquelle: Nina Diezemann

Seyla Benhabibs Texte zeichneten sich durch besondere Klarheit aus, während gleichzeitig Widersprüche und Paradoxien in der Tradition der Frankfurter Schule selbstkritisch reflektiert würden, sagte Professor Paul Nolte, Historiker an der Freien Universität und Sprecher des DHC, in seiner Einführung. Seyla Benhabib zufolge werden die Debatten über Menschenrechte und Migration niemals abgeschlossen sein: „Sie durchlaufen ‚demokratische Iterationen‘“ – ein Konzept, das den Historiker überzeugt, weil so die essenzielle Rolle von Zeit in Diskursen betont werde, in denen moralische und politische Fragen oftmals wie über oder außerhalb der Zeit stehend behandelt würden.

„Widerspruch zwischen staatlicher Souveränität und Allgemeinen Menschenrechten“

Seyla Benhabib beschrieb in ihrer Lecture die globale Bewegung von Flüchtlingen als eine der zentralen Herausforderungen für freiheitliche Demokratien: Mehr als 70 Millionen Menschen sind derzeit weltweit auf der Flucht – das ist absolut gesehen die höchste Zahl seit dem Zweiten Weltkrieg, auch wenn sich seitdem die Bevölkerung verdreifacht hat. Jede Demokratie kenne das Dilemma: den Konflikt zwischen den universellen Rechten auf der einen und der Idee nationaler Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Seyla Benhabib nennt es „den Widerspruch zwischen staatlicher Souveränität und den Allgemeinen Menschenrechten“.

„Wir sind also in der paradoxen Lage, einerseits universelle Rechte anzuerkennen und andererseits territoriale Zugehörigkeit zur Voraussetzung für ihre Einhaltung zu machen“, sagte die Philosophin. Im selben Staat, in dem die individuellen Grundrechte seiner Staatsangehörigen garantiert seien, könnten die Allgemeinen Menschenrechte für Einwohner ohne Staatsangehörigkeit geleugnet werden. Das Selbstbestimmungsrecht der Nation werde dann gleichgesetzt mit dem Recht, „die anderen“ auszuschließen und deren Menschenrechte zu missachten.

Re-Lektüre der Hegel' schen Grundlinien der Philosophie des Rechts

Seyla Benhabib unternahm mit ihren Reflexionen zu Hegels Konzeption der Person eine Re-Lektüre seiner „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ aus dem Jahr 1820. Damit kehrte sie auch zu ihren eigenen akademischen Anfängen zurück: Vor 40 Jahren war die Philosophin über Hegel und seine Rechtsphilosophie promoviert worden.

Hegel verstehe Recht als Verwirklichung von Freiheit, erläuterte Benhabib. Die Grundlage dieser Freiheit sei die allgemeine Anerkennung der Person als Rechtssubjekt: „Hegel setzt Menschen nicht einfach als Personen voraus; sie bestimmen sich erst durch soziale Anerkennungsverhältnisse als Personen, das heißt als Träger von Rechten“, erläuterte Benhabib.

Auch, dass alle Menschen gleich seien, sei eine unmittelbare Forderung, die aus dem Hegel‘ schen Begriff der Person abgeleitet werden könne. Die bürgerlichen Rechte könnten keiner Personengruppe versagt werden, auch nicht den vermeintlich ausländischen Juden im Preußischen Staat, befand Hegel in seiner Rechtsphilosophie: Wer den Juden die bürgerlichen Rechte versage, übersehe, „dass sie zuallererst Menschen sind“.

„Sei eine Person und respektiere die anderen als Person“

Was also lässt sich von Hegels Konzeption der Person und deren Rechte für die gegenwärtige Verfasstheit der Menschenrechte ableiten? Hegels Argumentation, so Seyla Benhabib, lasse sich durchaus so verstehen, dass ein Staat mit dem Anspruch, die Vernunft als Institution verkörpern zu wollen, Menschenrechte allgemein anerkennen und respektieren müsse. So lasse sich auch Hegels eigentümliche Bemerkung aus der Rechtsphilosophie verstehen: „Sei eine Person und respektiere die anderen als Person.“ Für Hegel sei daher die Anerkennung des Individuums als Person – also als Träger von Rechten – ausschlaggebend für die Legitimität moderner Rechtsstaaten.

Hegels Begriff der Person umfasst Seyla Benhabib zufolge „notwendigerweise die Dimension des ‚Kampfes um Anerkennung‘ marginalisierter Gruppen“. Es zeige sich – darauf wies Seyla Benhabib hin – auch eine überraschende Übereinstimmung zwischen Hegel und Hannah Arendt: Das „Recht, Rechte zu haben“, wie es Hannah Arendt formuliert hat, sei nichts anderes als die Anerkennung des Menschen als Person im Hegel‘schen Sinne. „Die fortschreitende Verwirklichung von Freiheit war für Hegel das oberste Prinzip der Moderne“, schloss Seyla Benhabib – und revitalisierte so den späten Hegel für eine moderne Gesellschaftskritik.