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„Sie hat ein Sprachorchester in ihrem Kopf“

Am 24. November wird die Schweizer Schriftstellerin und Übersetzerin Ilma Rakusa im Deutschen Theater mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet – ein Interview mit den Literaturwissenschaftlerinnen Anne Fleig und Marion Acker

22.11.2019

2017 wurde Ilma Rakusa mit dem Berliner Literaturpreis geehrt, nun folgt der Kleist-Preis.

2017 wurde Ilma Rakusa mit dem Berliner Literaturpreis geehrt, nun folgt der Kleist-Preis.
Bildquelle: Stephan Töpper

Der Kleist-Preis ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für deutschsprachige Literatur. In diesem Jahr geht er an die Autorin Ilma Rakusa – eine Kosmopolitin, in deren Schreiben Mehrsprachigkeit eine wichtige Rolle spielt. Anne Fleig, Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität und Beisitzerin im Vorstand der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, und ihre Mitarbeiterin Marion Acker haben sich im Rahmen des Forschungsprojekts „Geteilte Gefühle“ intensiv mit Rakusa auseinandergesetzt. Im Interview schildern die beiden Wissenschaftlerinnen, was die Schriftstellerin auszeichnet – und was passiert, wenn in einem literarischen Text verschiedene Sprachen erklingen.

Frau Professorin Fleig, Frau Acker, was für eine Autorin ist Ilma Rakusa?

Marion Acker: Sie ist eine ungemein facettenreiche Autorin, die über die Grenzen der Nationalsprachen und -literaturen hinweg arbeitet und schreibt. Dazu tragen die Mehrsprachigkeit ihrer Texte, aber auch ihre Tätigkeit als Übersetzerin bei. Ilma Rakusa hat eine polyglotte Lebensgeschichte: Sie hat ihre Kindheit zunächst in Budapest, Ljubljana und Triest verbracht. Mit fünf Jahren siedelte sie mit ihrer Familie nach Zürich über.

Dieser Lebensweg wird in dem 2009 veröffentlichen Erinnerungsbuch Mehr Meer selbst zum Thema. Er spielt aber nicht nur inhaltlich eine Rolle, sondern schlägt sich auch in einer nomadischen Schreibweise nieder. Ihr Schreiben vollzieht eine Bewegung zwischen Sprachen und situiert darin ‚Heimat‘ und ‚Zugehörigkeit‘.

Anne Fleig: Vielleicht kann man auch sagen: Ilma Rakusa ist in der Mehrsprachigkeit zu Hause, das heißt in einem beweglichen Zuhause, einem gleichsam „entorteten Ort“.

Welche Bedeutung hat die Verleihung des Kleist-Preises an solch eine Autorin?

Fleig: Mit dem Kleist-Preis sollen risikofreudige und auf die Zukunft orientierte Autorinnen und Autoren ausgezeichnet werden. Anders als bei den meisten Literatur-Preisen entscheidet beim Kleist-Preis keine Jury über die Vergabe, sondern eine einzelne Vertrauensperson. Mit Blick auf die vergangenen Jahre fällt auf, dass immer wieder mehrsprachige Autorinnen und Autoren diesen Preis erhalten, so etwa 2016 Yoko Tawada, die diesjährige Vertrauensperson. Insofern stellt sich vielleicht die Frage, inwiefern mehrsprachiges Schreiben die Zukunft ist?

Anne Fleig ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin.

Anne Fleig ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche und niederländische Philologie der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Miriam Klingl

Wie schlägt sich die Mehrsprachigkeit in Ilma Rakusas Werk nieder?

Acker: Ilma Rakusa schreibt auf Deutsch, mitunter mit fremdsprachigen Einsprengseln, etwa aus dem Slowenischen, Ungarischen, dem Englischen und Russischen. Dies wäre die offensichtlichste Form, in der Mehrsprachigkeit bei Rakusa vorkommt. Sie erfolgt immer mit Rücksicht auf die Leserinnen und Leser. Es entstehen kleine Momente der Irritation, wenn plötzlich Wörter fallen, die man nicht versteht. Dieser leichte Verfremdungseffekt hat aber keine ausschließende Wirkung.

Wie wirkt sich dieser Verfremdungseffekt darüber hinaus aus?

Acker: Wenn man ein Wort nicht versteht, nimmt man es anders wahr. Wenn der Bedeutungsgehalt wegfällt, achtet man mehr darauf, wie es beschaffen ist, wie es aussieht, wie es klingt. Es wird dann deutlich, dass Sprache nicht bloß Kommunikationsmittel ist. Rakusa lenkt die Aufmerksamkeit auf den Klang, auf die Materialität und Musikalität von Sprache.

Fleig: Ilma Rakusa hat einmal gesagt, sie habe ein Sprachorchester in ihrem Kopf. Das heißt: Verschiedene Sprachen können – wenn man sie gemeinsam zum Klingen bringt, wie Instrumente in einem Orchester – zu Musik werden und Resonanz erzeugen. Diese Vielstimmigkeit bildet Rakusa in ihrer Literatur ab. Dass ihr dieses schwierige Unterfangen gelingt, zeichnet sie als Schriftstellerin ganz besonders aus.

Marion Acker ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin.

Marion Acker ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin.
Bildquelle: Miriam Klingl

Frau Fleig, in einem von Ihnen geleiteten Forschungsprojekt, spielt das Werk von Ilma Rakusa eine zentrale Rolle. Was genau erforschen Sie?

Fleig: Das Projekt trägt den Namen „Geteilte Gefühle. Entwürfe von Zugehörigkeit in der transkulturellen deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“. Es ist an der Freien Universität am Sonderforschungsbereich „Affective Societies. Dynamiken des Zusammenlebens in bewegten Welten“ angesiedelt. Im ersten Förderzeitraum, der gerade zu Ende gegangen ist, haben wir mehrsprachige Literatur insbesondere als Reflexion auf das Thema Zugehörigkeit und Mehrfachzugehörigkeit untersucht.

Was bedeutet es, die Sprachen zu wechseln, verschiedene Stimmen oder Sprachen im Kopf zu haben? Eben waren wir beim Klang – auch im Begriff Zugehörigkeit ist das Hören, das Zuhören und das Gehörtwerden ganz wichtig. Und wie wirkt sich das wiederum auf Vorstellungen von Zuhause- oder Beheimatetsein aus? Marion Acker erforscht in ihrem Dissertationsprojekt etwa die verschiedenen Konzepte von Heimat und Zugehörigkeit bei Ilma Rakusa und Herta Müller.

Wie unterscheiden sich die beiden Autorinnen dahingehend?

Acker: Herta Müller steht einem Begriff wie „Heimat“ deutlich skeptischer gegenüber. Ilma Rakusa plädiert dafür, den Begriff pluralisch zu öffnen, ihm eine neue Bedeutung zu geben. Anders Herta Müller, die in einem Dorf im deutschsprachigen Banat (Rumänien) geboren und aufgewachsen ist und viele Jahre ihres Lebens unter dem Ceaușescu-Regime verbracht hat.

Aufgrund dieser Erfahrungen hat sie ein äußerst kritisches Verhältnis zum Heimatbegriff.. Auch ‚Zugehörigkeit‘ ist für sie nichts per se Positives. In diesem semantisch sehr vielschichtigen Wort steckt zum Beispiel auch der Aspekt der „Hörigkeit“, eine Form des Gehorsams. Für Herta Müller geht es weniger um die Frage, wie finde ich Zugehörigkeit, als um das Gegenteil: Wie kann ich erdrückenden Regimen der Zugehörigkeit entkommen?

Wie wird das Projekt „Geteilte Gefühle“ nun weitergehen?

Fleig: Wir bleiben bei dem Zusammenhang von Mehrsprachigkeit und Zugehörigkeit, wenden uns jetzt aber stärker konkreten Orten zu. In der zweiten Projektphase haben wir einen speziellen Fokus auf Berlin von den 1970er Jahren bis heute. Uns interessiert, wie Vielstimmigkeit und Mehrsprachigkeit das gesellschaftliche Leben in Berlin prägen und welche Berliner Entwürfe von Zugehörigkeit es in der Gegenwartsliteratur gibt.

Die Fragen stellte Dennis Yücel

Weitere Informationen

Yoko Tawada verleiht den Kleist-Preis 2019 an Ilma Rakusa. Es lesen die Schauspielerin Maren Eggert und der Schauspieler Alexander Khuon.

Zeit und Ort

  • 24. November 2019, 11 Uhr
  • Deutsches Theater Berlin, Schumannstraße 13A, 10117 Berlin

Weitere Informationen: www.deutschestheater.de/programm/spielplan/kleist-preis-2019/4206/