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„Es wäre so falsch, nicht hier zu sein“

75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz Gedenken vor der Ihnestraße 22 in Berlin-Dahlem

28.01.2020

Gedenken an der Ihnestraße 22 in Berlin-Dahlem.

Gedenken an der Ihnestraße 22 in Berlin-Dahlem.
Bildquelle: Christine Boldt

„Es wäre so falsch, nicht hier zu sein. Heute muss man gedenken, auch wenn es nur eine halbe Stunde ist. Dies ist kein Tag wie jeder andere.“ Corinna Cerruti, Soziologiestudentin im Master, ist eine von etwa 200 Menschen, die an diesem 27. Januar nachmittags vor der Ihnestraße 22 zusammengekommen sind: Es sind Studierende, Beschäftigte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler.

Professor Reinhard Bernbeck ist einer der Initiatoren des Gedenkens.

Professor Reinhard Bernbeck ist einer der Initiatoren des Gedenkens.
Bildquelle: Christine Boldt

Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz hatten Professorin Susan Pollock und Professor Reinhard Bernbeck vom Institut für Vorderasiatische Archäologie der Freien Universität Berlin eingeladen, sich vor dem Gebäude zu versammeln: Wo heute Teile des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Universität untergebracht sind, befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Die dort arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren mit ihrer sogenannten Rassenforschung an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt.

Von 1927 an hatte der Anthropologe und Rassenhygieniker Eugen Fischer in der Ihnestraße 22 gearbeitet. Otmar von Verschuer, der 1942 die Nachfolge Eugen Fischers als Institutsdirektor antrat, forschte in dem Gebäude an Zwillingen. Er wollte nachweisen, dass Krankheiten und psychische Störungen, aber auch charakterliche Neigungen, erblich sind. Sein Doktorand war Josef Mengele, der später als Arzt im Konzentrationslager Auschwitz menschenverachtende medizinische Experimente an Häftlingen durchführte – und der Organe und andere Körperteile von im KZ ermordeten Menschen auch im Kaiser-Wilhelm-Institut untersuchen ließ. Heute erinnert eine Gedenktafel an die dunkle Geschichte des Gebäudes.

Vor der Ihnestraße 22. In dem Gebäude befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ist die Vorgängerin der Max-Planck-Gesellschaft.

Vor der Ihnestraße 22. In dem Gebäude befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft ist die Vorgängerin der Max-Planck-Gesellschaft.
Bildquelle: Christine Boldt

Erinnern mit Primo Levi

Zwei Studenten stehen davor und lesen aus Primo Levis autobiografischem Roman „Die Atempause“. Der jüdische Schriftsteller, der Auschwitz überlebt hat, erinnert sich an die Tage und Wochen nach der Befreiung am 27. Januar 1945: Mit dem etwa dreijährigen Hurbinek – „dem Kleinsten und Hilflosesten unter uns“ – hatte er im Lager-Lazarett gelegen. Der Junge, „von den Hüften abwärts gelähmt und seine Beine dünn wie Stöckchen“, hatte niemals Sprechen gelernt, aber „seine Augen funkelten erschreckend lebendig, fordernd und voller Lebensanspruch“. Hurbinek starb im März 1945, „frei, aber unerlöst“. „Nichts bleibt von ihm“, schreibt Levi. „Er legt Zeugnis ab durch diese meine Worte.“

Reinhard Bernbeck legt Blumen auf die Stufen vor der Ihnestraße 22: „Wir wollen einen Moment innehalten.“

Gedenktafel am Gebäude Ihnestraße 22.

Gedenktafel am Gebäude Ihnestraße 22.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Erinnern und aufarbeiten

Leon, der im 1. Semester Politikwissenschaft studiert, ist nach den Schweigeminuten nicht nach vielen Worten. Er sei gekommen, um ein Zeichen zu setzen gegen Rassismus und Ausgrenzung: „Wir stehen hier für eine offene Gesellschaft, die Minderheiten schützt.“ Sonja Wagner sagt: „Gerade das Otto-Suhr-Institut als politikwissenschaftliches Institut muss an die Geschichte des Hauses erinnern.“ Die Politikwissenschaftsstudentin im 7. Semester wünscht sich deshalb „mehr als die Tafel“.

Derzeit erarbeitet die promovierte Historikerin Manuela Bauche gemeinsam mit Masterstudierenden der Politikwissenschaft Konzepte, wie die Historie des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik und die Rolle der Wissenschaft bei den grauenvollen Verbrechen des Nazi-Regimes sichtbarer gemacht werden kann. In dem Projektseminar, das über zwei Semester geht, setzen sich die Studierenden dabei sowohl mit der Geschichte des Gebäudes während der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus auseinander als auch mit Methoden der Geschichtsvermittlung.