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Können nicht einfach ins Homeoffice: 20.000 Pflanzenarten und seltene Sammlungen

Wie im größten Botanischen Garten und Botanischen Museum Deutschlands der Notbetrieb läuft

16.04.2020

Im Frühling ist im Botanischen Garten der Freien Universität jede Menge zu tun – eine Herausforderung im Notbetrieb.

Im Frühling ist im Botanischen Garten der Freien Universität jede Menge zu tun – eine Herausforderung im Notbetrieb.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Durch die Corona-Pandemie und die damit verbundenen behördlichen Auflagen ändert sich die Arbeit im Botanischen Garten und Botanischen Museum der Freien Universität Berlin grundlegend: Auch dort musste auf Notbetrieb umgestellt werden. Doch ruhen kann die Arbeit auf der 43-Hektar-Fläche nicht, und ins Homeoffice können nicht alle.

Der Publikumsbetrieb im Botanischen Garten ist seit dem 18. März aufgrund behördlicher Vorgaben für die Universitäten unterbrochen. Als Einrichtung der Freien Universität Berlin wurde auch am Botanischen Garten ein Notfallpräsenzbetrieb organisiert. Auch wenn es im Garten potenziell genug Platz gibt, wären doch Kontaktsituationen an den Kassen, Toiletten, den oft sehr engen und verschlungenen Wegen und Informationstafeln unvermeidbar und nötige Abstände nicht überall einzuhalten.

Damit kein unersetzbarer Schaden an der wissenschaftlichen Pflanzensammlung entsteht

Doch nicht nur zum Schutz der Besucherinnen und Besucher, sondern auch des eigenen Personals im Besucherservice und Gartenbetrieb wegen sind diese Maßnahmen begründet. Arbeitswege mit öffentlichem Personennahverkehr, Risikogruppen, krankheitsbedingter Ausfall – all das muss bedacht werden. 20.000 Pflanzenarten mit Hunderttausenden lebenden Individuen in Kultur lassen sich aber nun mal nicht vom Homeoffice aus pflegen. Gerade jetzt im Frühling kann man die Pflanzen nicht einfach für längere Zeit unbetreut lassen. Zu groß wäre das Risiko, dass unersetzbarer Schaden an der wertvollen wissenschaftlichen Pflanzensammlung entsteht, dass das Werk von Jahrzehnten und unzähligen Sammelreisen zerstört und das internationale Renommee gefährdet wird.

Ein Spaziergang im Botanischen Garten im Frühling ist ein besonderes Erlebnis. Derzeit muss der Garten für Besucher aber geschlossen bleiben.

Ein Spaziergang im Botanischen Garten im Frühling ist ein besonderes Erlebnis. Derzeit muss der Garten für Besucher aber geschlossen bleiben.
Bildquelle: Botanischer Garten und Botanisches Museum

„Um die notwendige Versorgung der wissenschaftlichen Pflanzensammlung und Pflege der historischen, denkmalgeschützten Anlagen zu sichern, ist im Notbetrieb aktuell ein Teil des gärtnerischen Teams werktags im Zweischichtsystem zu je maximal 40 Personen vormittags und nachmittags bis zu sechs Stunden im Garten an der Arbeit“, erklärt der kommissarische Abteilungsleiter für den Gartenbetrieb Thorsten Laute das ausgeklügelte Notfallsystem.

Die zwei Schichten überlappen sich nicht. Es werden Kontakte vermieden, damit keine potenzielle Virusbrücke die Notversorgung gefährdet. So soll sichergestellt werden, dass selbst im schlimmsten Fall immer noch ein gärtnerisches Teammitglied pro Bereich weiter einsatzfähig bleibt.

Frühling ist Hochsaison für gärtnerische Arbeiten

Die heikelsten Pflanzen brauchen auch am Wochenende und an den Feiertagen Betreuung, wenn acht Personen die Stellung im Kulturdienst halten. Denn es ist Frühling – das ist Hochsaison für gärtnerische Arbeiten. Dazu kommen das zunehmend warme Wetter und fehlender Regen; die Pflanzen müssen auch im Freiland nun schon gewässert werden.

So steht die Versorgung der vielen tausend Akzessionen von dokumentierten Pflanzen von Wildherkünften aus aller Welt jetzt im Mittelpunkt aller gärtnerischen Aktivitäten. Routinemäßige gärtnerische Verschönerungsarbeiten an den Anlagen werden zugunsten von wichtigen Kulturmaßnahmen auf spätere Termine verschoben. „Dennoch sind die meisten Arbeiten witterungsbedingt zu Beginn der Vegetationsperiode besonders im Freiland und den Kaltgewächshäusern einfach nicht zu verschieben, wenn man nicht nachhaltige Verluste in der Qualität der Pflanzensammlung in Kauf nehmen will“, bringt Thorsten Laute die aktuelle Herausforderung auf den Punkt. So läuft mitten im Frühjahr die Betreuung des gesamten Gartens routiniert auf personell leicht abgesenktem Niveau mit der Fokussierung auf die wissenschaftlichen Pflanzensammlungen in den Gewächshäusern und den weiten Freilandbereichen.

Die Kupfer-Felsenbirne (Amelanchier lamarckii) blüht vor den Gewächshäusern.

Die Kupfer-Felsenbirne (Amelanchier lamarckii) blüht vor den Gewächshäusern.
Bildquelle: Botanischer Garten und Botanisches Museum

Manche Pflanzenarten brauchen Spezialbetreuung

Die gärtnerische Arbeit in einem Botanischen Garten ist nicht vergleichbar mit anderen Tätigkeiten im grünen Bereich: Ein Botanischer Garten ist eben kein Park. Die Kultur vieler Wildpflanzenarten ist herausfordernd, für viele gibt es noch nicht einmal Literatur, manche sind sehr selten und jede Pflanzenart hat ihre eigenen Bedürfnisse, um zu wachsen, zu blühen, sich zu vermehren. Die Anforderungen sind immens, pro Gartenbereich müssen etwa 1.500 Pflanzenarten ganz genau gekannt und gepflegt werden. Jede Pflanzenart im Botanischen Garten ist wie ein Privatpatient, manche benötigen zusätzliche Spezialbetreuung. „Die Menschen mit dem sprichwörtlichen grünen Daumen sind die systemrelevanten Helden im Botanischen Garten nicht nur während der Corona-Krise“, unterstreicht Thorsten Laute.

Die Gartenschließung ist für viele Fans schmerzlich – gerade jetzt, wo doch der schönste Frühling ist, der Hunger nach jedem Grün groß ist und Naturbegegnungen Körper, Geist und Seele stärken. Gerade in einer Millionenstadt wie Berlin hat der Botanische Garten eine herausragende Bedeutung, um naturnahe Landschaften und den Reichtum der biologischen Vielfalt erlebbar zu machen.

Virtueller Spaziergang durch den Botanischen Garten auf der Homepage

Ein virtueller Spaziergang durch den frühlingshaften Botanischen Garten auf der Homepage will versuchen, den realen Besuch zu kompensieren. So können alle Pflanzenfans am Wachsen und Blühen im Garten während der Corona-Schließzeit teilhaben. Und vielleicht etwas Freude am schönen Garten und der Vielfalt der Pflanzen erleben, Vorfreude auf die Wieder-Eröffnung, auf eigene Entdeckungen.

Im Mittelmeerhaus blüht in violett der Madeira-Storchschnabel (Geranium maderense), zu seinen Seiten wächst Täuschender Schwarzsellerie (Melanoselinum decipiens).

Im Mittelmeerhaus blüht in violett der Madeira-Storchschnabel (Geranium maderense), zu seinen Seiten wächst Täuschender Schwarzsellerie (Melanoselinum decipiens).
Bildquelle: Botanischer Garten und Botanisches Museum

Die Beschäftigten in Wissenschaft, Verwaltung, Bibliothek, Laboren und Technik sind weitestgehend im Homeoffice und tauschen sich regelmäßig telefonisch oder per Videokonferenz aus oder arbeiten im Schichtbetrieb. Die Arbeit konzentriert sich im Wissenschaftsbereich gegenwärtig auf Tätigkeiten wie die Aufarbeitung von Sammlungen und Datenbeständen und das Verfassen von Publikationen. Gerade dabei gibt es viele Online-Diskussionen mit Kooperationspartnern im In- und Ausland – die auch alle im Homeoffice arbeiten. So wird die Flora von Kuba weiter intensiv und in internationaler, virtueller Zusammenarbeit erarbeitet und Doktorarbeiten zu wissenschaftlichen Revisionen von Pflanzengattungen werden vorangetrieben. Auch der Ausbau der wissenschaftlichen Informationssysteme geht weiter.

Nicht alle Versuche können unterbrochen werden

Und selbstverständlich wird auch an der Konzeption der neuen Dauerausstellung im Botanischen Museum weitergearbeitet. Das neue Besucherzentrum befindet sich im Bau und die weiteren baulichen Maßnahmen zur Aufwertung der Infrastruktur im denkmalgeschützten Botanischen Garten werden ebenfalls fortgesetzt – so gut dies unter den gegenwärtigen Bedingungen möglich ist.

Auf 20 Grad unter null gekühlt werden in der Dahlemer Saatgutdatenbank Wildpflanzsamen konserviert. An ihnen werden regelmäßig Keimungsexperimente durchgeführt, die mehrere Monate dauern.

Auf 20 Grad unter null gekühlt werden in der Dahlemer Saatgutdatenbank Wildpflanzsamen konserviert. An ihnen werden regelmäßig Keimungsexperimente durchgeführt, die mehrere Monate dauern.
Bildquelle: Botanischer Garten und Botanisches Museum

Im Orchideenhaus trinken Ameisen vom Nektar der Blüte des Niamniam-Springkrauts (Impatiens niamniamensis).

Im Orchideenhaus trinken Ameisen vom Nektar der Blüte des Niamniam-Springkrauts (Impatiens niamniamensis).
Bildquelle: Botanischer Garten und Botanisches Museum

Dank der guten technischen Infrastruktur ist ein Zugriff auf die Daten, die internationale Kommunikation und das Arbeiten an den internen Datenbanken auch von zu Hause aus gut machbar. Doch nicht alle wissenschaftlichen Versuche konnten gestoppt werden oder lassen sich von zu Hause aus erledigen. Beispielsweise die Keimungsversuche in der Dahlemer Saatgutbank: Hier werden Samen von Wildpflanzen gesammelt, dokumentiert und mithilfe von Trocknung und Lagerung bei unter minus 20 Grad konserviert. So verlängert sich die Keimfähigkeit der Samen um Jahrzehnte, manchmal sogar Jahrhunderte. Auch wenn die eingefrorenen Samen selbst keine gärtnerische Versorgung benötigen, muss die Qualität des Saatguts gesichert werden. Dazu dienen Keimungstests, die in regelmäßigem Turnus und nach standardisiertem Verfahren mit wenigen Samen pro Probe durchgeführt werden. Die vor der Corona-Pandemie gestarteten Keimungsexperimente müssen weiterverfolgt werden. „Ein Versuch dauert manchmal mehrere Monate, muss mindestens dreimal die Woche kontrolliert und die erfolgreich gekeimten Samen gezählt werden, um die Keimfähigkeit der Lagerstände zu überprüfen“, erklärt die Leiterin der Saatgutbank Elke Zippel. Auch müssen die technischen Anlagen regelmäßig vor Ort kontrolliert werden. Das Saatgutbank-Team wechselt sich dabei ab, um sich bei der Arbeit nicht zu begegnen.

Fliegen lassen sich vom Gestank des Amerikanischen Riesenaronstabs (Lysichiton americanus) anlocken und transportieren so dessen Blütenpollen.

Fliegen lassen sich vom Gestank des Amerikanischen Riesenaronstabs (Lysichiton americanus) anlocken und transportieren so dessen Blütenpollen.
Bildquelle: Botanischer Garten und Botanisches Museum

Die Forschung geht weiter

Auch eine über mehrere Jahre im Verbund mit zahlreichen anderen Botanischen Gärten weltweit laufende wissenschaftliche Untersuchung kann nicht einfach unterbrochen werden. Ansonsten wäre die Arbeit von Jahren hinfällig. Im PhenObs-Projekt wird wöchentlich der genaue phänologische Entwicklungsstand von etwa 350 Pflanzenarten im Garten untersucht: Wann öffnen sich die Knospen, entfalten sich die Blätter, erfolgt der Blütenaustrieb? Diese Untersuchungen sollen im internationalen Vergleich und gekoppelt mit Wetterdaten die Auswirkungen des Klimawandels auf das Wachstum von verschiedenen Pflanzenarten und potenzielle Veränderungen der Vegetation beleuchten. Auch in der Forschungsgruppe der Diatomeen gibt es lebende Reinkulturen von Kieselalgen, die regelmäßig vor Ort weiter betreut werden müssen – was trotz der mikroskopischen Größe der Kieselalgen nicht weniger aufwendig ist als die Pflege höherer Pflanzen im Garten.

Auch wenn das Leben und Arbeiten im Botanischen Garten und Botanischen Museum während der Corona-Krise irgendwie weitergeht, freuen sich doch alle darauf, dass die Arbeit wieder vor Ort und uneingeschränkt aufgenommen werden kann. Und darauf, dass der Garten für seine Gäste wieder die Pforten öffnet, die Bibliothek zur Recherche zur Verfügung steht und unsere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die pflanzliche Vielfalt in den entlegensten Teilen der Erde erforschen, erhalten und zeigen können.

Weitere Informationen

Auf den Seiten des Botanischen Gartens und Botanischen Museums können Sie einen virtuellen Spaziergang unternehmen.