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„Aufwendige und engagierte Arbeit“

Präsidium der Freien Universität erläutert Prüfverfahren der Dissertation von Franziska Giffey vor dem Akademischen Senat / Erklärung von Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler im Wortlaut

20.11.2020

Das Präsidium der Freien Universität hat am 18. November vor dem Akademischen Senat das Prüfverfahren der Dissertation von Franziska Giffey erläutert. In seiner Rede im Henry-Ford-Bau dankte der Präsident der Freien Universität Professor Günter M. Ziegler den Mitgliedern des Prüfungsgremiums ausdrücklich „für ihre engagierte und aufwendige Arbeit. Die Kolleginnen und Kollegen haben die Überprüfung eines Falls übernommen, der unter besonderer Beobachtung stand und über den – von Einzelnen stark interessengeleitet – in der Öffentlichkeit diskutiert wird.“

Lesen Sie hier die Erklärung im Wortlaut. (Es gilt das gesprochene Wort.) (Hier kommen Sie zur Pressemitteilung vom 18. November 2020, mit der die erneute Prüfung angekündigt wird.)

Universitätspräsident Prof. Dr. Günter M. Ziegler

Universitätspräsident Prof. Dr. Günter M. Ziegler
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren,

heute möchte ich Sie im Namen des Präsidiums über den aktuellen Stand und über die nächsten Schritte im Verfahren zur Überprüfung der Dissertation von Franziska Giffey informieren. Die Dissertation wird in einem neuen Verfahren erneut geprüft. Meine Erläuterungen, die ich jetzt zuerst dem Akademischen Senat vorstellen möchte, werden als eine Sammlung von Fragen und Antworten, neudeutsch Q&A, auch für die Öffentlichkeit nach der Sitzung auf den Webseiten der Freien Universität zur Verfügung gestellt.

Erste Frage: Warum prüfen wir überhaupt, warum prüfen wir erneut, und wer prüft?

Die Freie Universität Berlin war von Franziska Giffey Anfang Februar 2019 um die Einleitung eines formellen Prüfungsverfahrens hinsichtlich ihrer Dissertation „Europas Weg zum Bürger – Die Politik der Europäischen Kommission zur Beteiligung der Zivilgesellschaft“ aus dem Jahr 2010 gebeten worden. Der Fachbereich hat damals das an der Freien Universität normale und übliche Prüfungsverfahren nach den Vorgaben von § 34 Abs. 7 und 8 des Berliner Hochschulgesetzes eingeleitet: Vom zuständigen Promotionsausschuss des Fachbereichs wurde ein Prüfungsgremium eingesetzt, das dasselbe Format hat wie eine Promotionskommission nach der gültigen Promotionsordnung – also aus mindestens vier Hochschullehrerinnen oder Hochschullehrern und einer promovierten akademischen Mitarbeiterin oder einem promovierten akademischen Mitarbeiter zusammengesetzt sein muss.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich Dank aussprechen an die Mitglieder des Prüfungsgremiums für ihre engagierte und aufwendige Arbeit. Die Kolleginnen und Kollegen haben die Überprüfung eines Falls übernommen, der unter besonderer Beobachtung steht und über den – von Einzelnen auch stark interessengeleitet – in der Öffentlichkeit diskutiert wird.

Auf Grundlage des Vorschlags des Prüfungsgremiums hat das Präsidium der Freien Universität Berlin nach intensiver Befassung am 30. Oktober 2019 beschlossen, Franziska Giffey für ihre Dissertation eine Rüge zu erteilen. Die Begründung für den Vorschlag ergibt sich aus dem Schlussbericht des Prüfungsgremiums.

Diese Entscheidung, eine Rüge zu erteilen, und damit auch zu missbilligen, dass Franziska Giffey in ihrer Dissertation die Standards wissenschaftlichen Arbeitens nicht durchgängig beachtet hat, ihr aber den Doktorgrad nicht zu entziehen, wurde von verschiedenen Seiten kritisiert. Insbesondere wurde die Zulässigkeit des Instruments der Rüge in Frage gestellt. Es sind im August, Oktober und November dieses Jahres drei juristische Gutachten vorgelegt worden, davon eines, das im Auftrag der Freien Universität erstellt wurde. In diesem von uns beauftragten Gutachten vom Anfang dieses Monats hält Professor Battis eine Rüge rechtlich für grundsätzlich zulässig. Er formuliert aber klare Kriterien für die Anwendung. Insbesondere stellt er fest, dass sie nur in einem minderschweren Fall in Betracht kommt. Deshalb mussten wir eine neue Überprüfung einleiten. Zwei weitere Gutachten im Auftrag politischer Parteien, eines davon vom wissenschaftlichen Dienst des Abgeordnetenhauses, kommen zu anderen Auffassungen, sie halten das Instrument der Rüge für überhaupt nicht zulässig.

Das Präsidium hat feststellen müssen, dass ein minderschwerer Fall im vorliegenden Schlussbericht des Prüfgremiums nicht dargetan wurde, das heißt, es wurde weder festgestellt, dass ein minderschwerer Fall vorliege, noch, dass dieser nicht vorliege. Ob ein solcher vorliegt, muss auf Basis einer vollumfänglichen Prüfung erklärt werden, die den gesamten Text umfasst, also in einer Prüfung, die sich nicht auf einzelne bekannte kritische Stellen oder Teile beschränkt. In der Gesamtschau der vorliegenden Gutachtenlage sind wir als Präsidium zu der vorläufigen Auffassung gekommen, dass unsere ursprüngliche Entscheidung möglicherweise ermessensfehlerhaft war (ja, das ist eine juristische Vokabel). Deshalb haben wir am 5. November dieses Jahres beschlossen und am 6. November mitgeteilt, ein Verfahren zur Aufhebung der Entscheidung vom 30. Oktober 2019 einzuleiten und über den Plagiatsvorwurf neu zu entscheiden. Über die beabsichtige Aufhebung der Entscheidung haben wir Franziska Giffey am 5. November umgehend informiert und ihr der guten Ordnung halber die Möglichkeit zur Stellungnahme eingeräumt. Zur Vorbereitung einer neuen Entscheidung wird erneut eine Überprüfung der Dissertation nach §34 Abs. 7 und 8 des Berliner Hochschulgesetzes erfolgen – die genauen Schritte erläutere ich Ihnen gleich noch.

Unsere Entscheidung, neu zu prüfen, wurde natürlich auch öffentlich wahrgenommen und vielfältig kommentiert. Franziska Giffey hat mir am vergangenen Freitag mitgeteilt, dass sie den Doktorgrad ab sofort und zukünftig nicht mehr führen werde. Aus diesem Grund habe ich ihren Namen hier auch jeweils ohne Titel genannt. Die Erklärung bewirkt aber keinen Verlust des Doktorgrads und des damit verbundenen Nachweises der Befähigung zu vertiefter wissenschaftlicher Arbeit. Der Verzicht auf das Führen des Doktorgrads beendet daher auch nicht das vom Präsidium beschlossene und eingeleitete Verfahren zur Aufhebung der Entscheidung vom 30. Oktober 2019. Sie gibt keinen Anlass, von der Vorbereitung einer neuen Entscheidung nach § 34 Abs. 7 und 8 des Berliner Hochschulgesetzes abzusehen.

Es ist nachvollziehbar, dass Öffentlichkeit und Medien ein starkes Interesse an dem Verfahren haben und es insbesondere mit Blick auf Themen vielfältig kommentiert wird, die über die eigentliche Promotionsarbeit hinausgehen. Nicht immer waren die auf das Verfahren bezogenen Darstellungen sach- und faktenbasiert. So wurden in der öffentlichen Darstellung die Freie Universität, einzelne Mitglieder wie auch das Präsidium heftig kritisiert, teils in polemischer und diffamierender Weise. Wir wissen, dass dies auch Sie – als Universitätsangehörige – trifft. Gerade deshalb möchte ich auf einige Punkte der Diskussion eingehen:

Sind die Standards an der Freien Universität nicht ausreichend?

Zunächst: Wir sind eine Universität mit mehreren Exzellenzclustern, Sonderforschungsbereichen, Graduiertenschulen und Projekten, die Ergebnis von höchst kompetitiven Verfahren sind. Diese Auszeichnungen nehmen wir als Anspruch und Verpflichtung, und wir sehen unsere Einrichtungen als Arbeitsplattformen für Wissenschaft von höchsten Ansprüchen; wir sehen den Erfolg unserer Graduiertenschulen auch als Zeichen der besonderen Stärke unserer Graduiertenausbildung.

Die Freie Universität sieht sich in besonderer Verantwortung und ist besonders engagiert in der Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis, aktuell zum Beispiel in der Umsetzung der neuen Regeln zu „Guter Wissenschaftlicher Praxis“ der DFG von 2019, die bis Sommer 2021 ausgestaltet und implementiert sein müssen – dieses Thema behandeln wir als Tagesordnungspunkt 15 der heutigen AS-Sitzung.

Was ist eigentlich Gegenstand des Verfahrens?

Lassen Sie mich etwas zum Gegenstand des Überprüfungsverfahrens sagen: Gegenstand der Prüfung war und ist die Dissertation “Europas Weg zum Bürger” aus dem Jahr 2010, die – wie festgestellt wurde – Mängel hat. Gegenstand ist in Konsequenz die Frage, ob der dafür verliehene Doktorgrad durch Täuschung erworben wurde und welche Rechtsfolgen dies hat. Dies wird jetzt, auf Grundlage der Rechtsgutachten und der sich daraus ergebenden neuen Situation neu und ergebnisoffen geprüft. In Bezug auf die aktuelle Berichterstattung einzelner Medien möchten wir hier klarstellen:

  • Gegenstand der Prüfung nach §34 Abs. 7 und 8 des Berliner Hochschulgesetzes ist nicht die fachliche Bewertung und Benotung der Dissertation und
  • Gegenstand der Prüfung ist auch nicht die Betreuung der Arbeit durch die Doktormutter, die die Doktorarbeit nachweislich engagiert und engmaschig betreut hat.

War das Verfahren intransparent?

Wir sind in diesem Verfahren aufgefordert worden, verschiedenste Informationen und Materialien offenzulegen. Bei allem Interesse an Offenheit und Transparenz sind wir verpflichtet zu einer sorgfältigen Abwägung zwischen einem behaupteten Interesse der Öffentlichkeit (das auch mit der späteren Tätigkeit der Doktorandin begründet wird) und den Persönlichkeitsrechten und der Nichtöffentlichkeit von Prüfungen wie auch der Vertraulichkeit von Beratungen zu Prüfungen. Jede Abwägung muss sorgfältig getroffen werden. Überprüfungen von Plagiatsvorwürfen sind aufwendig, komplex und benötigen Zeit, um ein ordnungsgemäßes Verfahren durchzuführen. Auf ein solches Verfahren haben jede und jeder einen Anspruch. Leider können solche Prozesse in der öffentlichen Wahrnehmung – erneut von Einzelnen vielleicht auch stark interessengeleitet, vielleicht aber auch einfach nur aus Ungeduld – als „mauern“ missverstanden werden. Sie und ich, wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die einen solchen Prozess schon einmal begleitet haben, wissen, dass diese Sichtweise der Realität nicht gerecht wird.

Gab es Befangenheiten des Prüfungsgremiums?

Die Frage nach Befangenheiten ist sehr prominent gestellt worden. Wir können dazu sagen, dass sich aus den vorliegenden beruflichen Kontakten der Mitglieder des Prüfungsgremiums, wie sie in den Medien dargelegt wurden, keine Besorgnis der Befangenheit dieser Personen ergibt. Die Besetzung des Gremiums erfolgte nach unseren gültigen und bestehenden Regeln. Allerdings haben wir auch gelernt, dass etwas – nur weil es nach den gültigen Regelungen erfolgt – trotzdem in der öffentlichen Wahrnehmung anders bewertet werden kann. Im vorliegenden Fall gehörte bei der Einsetzung des Prüfgremiums durch den Promotionsausschuss in Abstimmung mit dem Präsidium die Doktormutter dem Promotionsausschuss an. Dies könnte sehr wohl als Besorgnis der Befangenheit ausgelegt werden – eine Tatsache, aus der wir gelernt haben, sodass wir an dieser Stelle überlegen, wie wir dies in künftige Prozesse im Sinne der Qualitätssicherung umsetzen können.

Die Universität als Lernende Organisation

Dies bringt mich zum nächsten Punkt: Ungeachtet unseres Selbstverständnisses als Exzellenzuniversität wissen wir, dass wir nicht immer alles perfekt machen, und die Frage ist, was wir daraus im Einzelfall lernen können, und ob wir es schaffen, Verbesserungsmöglichkeiten zu erkennen und diese in neue Handlungsweisen und Prozesse zu überführen. Wir verstehen uns als Lernende Organisation – und lernen können wir dabei aus neuen Erkenntnissen – in diesem Fall die vorliegenden Rechtsgutachten – oder aus Erfahrungen wie der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion. Wenn wir feststellen, dass wir an bestimmten Punkten möglicherweise nicht gut entschieden haben, dann sollten wir dies – wenn möglich – nachträglich hinterfragen, selbst wenn der Aufwand sehr groß wird. Das ist der Prozess, in dem wir uns im Moment befinden. Diesen Prozess möchten wir mit der nötigen Vertraulichkeit, um ihn gegen Einflüsse und Interessen von außen zu schützen, aber gleichzeitig so transparent wie möglich, im Interesse aller Beteiligten, so zügig wie möglich und dabei zugleich sehr sorgfältig und abgesichert durchführen.

Was passiert als Nächstes?

Der weitere Prozess wird sich folgendermaßen gestalten: Der Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften wird gebeten, durch den Promotionsausschuss ein neues Prüfungsgremium einzusetzen, das möglichst auch weitere externe Mitglieder enthalten soll, wobei die Betreuerin der Doktorarbeit schon erklärt hat, dass sie an den Beratungen und der Entscheidung zur Einsetzung des Prüfgremiums – auch zu ihrem eigenen Schutz – nicht mitwirken wird. Im neuen Prüfungsgremium werden keine Mitglieder aus dem alten Prüfungsgremium mitwirken. Die Namen der Mitglieder des neuen Prüfgremiums werden öffentlich gemacht. Es wird eine erneute Prüfung der Dissertation erfolgen. Für alle Beteiligten wird der Maßstab gelten, die Arbeit von Franziska Giffey zügig und gründlich, aber nicht vorschnell, unbeeinflusst von möglichem Druck von außen, zu prüfen – und dabei höchste wissenschaftliche Standards anzuwenden. Das neue Gremium soll nach der Prüfung einen neuen Vorschlag beschließen. Auf dieser Grundlage soll das Präsidium über den Fall entscheiden und in diesem Zusammenhang über eine mögliche Aufhebung der Rüge.

Die Freie Universität Berlin ist eine große Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten und einem gemeinsamen Kompass. Dies gebietet Fairness allen gegenüber: Professorinnen und Professoren, die sich in Betreuung wie in Prüfungen und Überprüfungen engagieren; Doktorandinnen und Doktoranden wie auch allen Studierenden, die Unterstützung und Anleitung erwarten und verdienen, die aber auch zu recht nach fairer Beurteilung, Maßstäben und Sorgfalt fragen und erwarten können. Ich bin sicher, dass wir in diesem Prozess als Gemeinschaft an unserer Freien Universität weiterhin fair miteinander agieren können und werden.