Gassi gehen mit der Künstlichen Intelligenz
Beim Science Slam der Wissensstadt Berlin 2021 traten Expertinnen und Experten der Freien Universität an – Sieger wurde KI-Forscher Christoph Benzmüller: mit Unterstützung seiner neunjährigen Zwillinge
09.08.2021
„Abstraktes und rationales Denken, Selbstreflektion, soziales Interagieren“ – Christoph Benzmüller, Professor am Dahlem Center for Machine Learning and Robotics am Fachbereich Mathematik und Informatik der Freien Universität Berlin, zählt auf, was starke Künstliche Intelligenz von schwacher unterscheidet: Schwache löst „nur“ spezielle Probleme, wie beispielsweise ein Roboter, der die Oberfläche des Mars erkundet.
Doch Benzmüller hat beim Science Slam der Freien Universität auf der Bühne der Wissensstadt Berlin vor dem Roten Rathaus mehr zu bieten als Definitionen. Der KI-Forscher hat seine neunjährigen Zwillingstöchter Carla und Elena als Verstärkung mitgebracht – und ein Video-interview, in dem er den beiden Kleinen die große Frage stellt: „Was ist denn für euch Künstliche Intelligenz?“
Alles, was der Mensch auch kann
„Künstliche Intelligenz“, antwortet Carla, „sollte auch Witze erzählen können, Gefühle erkennen, ein Gespräch führen, nicht nur Matheaufgaben lösen.“ „Also alles, was ein Mensch auch kann“, ergänzt Elena. Für Zwillingsvater und KI-Forscher Benzmüller der Beleg: schon Kinder haben ein Gespür dafür, was Intelligenz ausmacht.
Den Wissenschaftler treibt um, wie Künstliche Intelligenz das Leben verändern könnte: das seiner kleinen Töchter und das der großen Stadt Berlin. Berufe könnten überflüssig werden, neue entstehen. Benzmüller stellt an diesem lauschigen Abend auf der Bühne der Wissensstadt Berlin die große Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung – und löst damit das Versprechen ein, das Professor Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität und Moderator des Abends, gegeben hat: „große Themen, die die Wissensstadt bewegen“.
Du sollst nicht stehlen
Was Verantwortung für KI bedeuten kann, veranschaulichen die Benzmüller-Zwillinge: Aus Watte, einer Glühbirne, Kabeln und einer Batterie haben sie ein menschliches Gehirn nachgebaut und auf einen fahrbaren Untersatz montiert. Den ziehen sie im Video an einer Leine hinter sich her – Gassi gehen mit der Künstlichen Intelligenz. Doch die gehorcht leider nicht. „Du hast schon meine halbe Limo ausgetrunken“, schimpft Carla mit dem Roboter.
„Man muss KI auch Grenzen setzen“, bestärkt Vater Benzmüller. Und das funktioniere wie beim Menschen über Sprache. Sprachverständnis, gute Erziehung und soziale Kontrolle – für den KI-Forscher sind das drei Voraussetzungen, damit sich auch Künstliche Intelligenz an Regeln hält. Verantwortlich dafür: der Mensch.
Experimente aus dem Koffer
Um Verantwortung und Zukunftschancen geht es auch Amitabh Banerji. Der Alumnus der Freien Universität ist Professor für Chemie-Didaktik an der Universität Potsdam.
Er steht an diesem Augustabend auf der Bühne, um seine jüngste Erfindung vorzustellen: einen Experimentier-Koffer, der den Chemieunterricht spannender machen soll, indem er Themen aufgreift, die Schülerinnen und Schüler bewegen, Themen wie Klimakrise und erneuerbare Energien. Im Koffer enthalten: alles, was Lehrkräfte, Schüler und Schülerinnen brauchen, um eine durchsichtige Solarzelle zu basteln, die sich als Fensterscheibe in Häuser einbauen lässt.
Wie bei der „Küchenschlacht“
Wofür in der Schule eine Dreiviertelstunde Zeit ist, muss Banerji in zwölf Minuten schaffen. Länger darf ein Slam-Beitrag nicht dauern, das ist die einzige Regel, die der Universitätspräsident den Slammern zur Begrüßung mitgegeben hat. Und so dämpft Banerji erst einmal die Erwartungen der rund 50 Zuschauenden und Zaungäste, die sich an diesem Abend in und um das hölzerne Amphitheater verteilt haben.
Doch dann legt der Professor los wie die Feuerwehr: Schutzbrille auf, „Sicherheit geht vor, ich mache das heute zum ersten Mal im Freien“. Banerji werkelt am Pult, als Spritzschutz dient eine Plastikflasche vom Discounter, eine Kamera überträgt seine schnellen Handgriffe auf die Leinwand.
Es erinnert ein bisschen an die „Küchenschlacht“, eine Kochshow im Fernsehen, bei der unter Zeitdruck um die Gunst einer Jury gewetteifert wird. Nur, dass die Jury beim Science Slam die Zuschauerinnen und Zuschauer sind: „Ich hol euch mal ein bisschen näher ran“, ruft der Chemie-Didaktiker, das Kamerabild wackelt. „So“, sagt er und hält die fertige Mini-Solarzelle hoch, „jetzt testen wir mal, ob die wirklich Strom erzeugt.“ Per Kabel schließt er einen kleinen Propeller an. Der dreht sich, Experiment gelungen, Applaus.
„Womit man sich so alles beschäftigen kann!“, staunt eine ältere Dame, die zum Science Slam gekommen ist, weil sie wissen will, was an der Uni heute so geforscht wird.
Starke Konkurrenz
Und die Dame erfährt an diesem Abend noch eine Menge mehr: Die theoretische Physikerin Sabrina Patsch erklärt ganz praktisch, wo Quantencomputer Nutzen bringen können, etwa beim Vermeiden von Staus und Verkürzen von Fahrzeiten.
Reinhold Leinfelder, Paläontologie-Professor an der Freien Universität, führt in zwölf Minuten durch vier Milliarden Jahre Energiegewinnung auf der Erde: von Methanbakterien über die ersten Wälder, die schon per Photosynthese Energie erzeugten, bis hin zum Menschen des Industriezeitalters, der die Kohle verfeuert, die über Jahrmillionen aus den ersten Wäldern entstanden ist.
„Von der Biosphäre lernen“, hat Leinfelder seinen Slam überschrieben – und damit den Weg zurück zu einer Energiegewinnung skizziert, die die Erde für künftige Generationen als Lebensraum erhält.
Wie unbewohnbare Planeten aussehen, zeigt passenderweise die Geophysikerin Lena Noack: am Beispiel der Erdnachbarn Venus und Mars. Zumindest der Mars könnte einst bewohnbar gewesen sein, erläutert die Professorin. Gewaltige Flüsse durchzogen die Marsoberfläche, bis ein dramatischer Klimawandel sie ausgetrocknet hat. Heute existiere Wasser nur noch an den Polen des roten Planeten und in ihm womöglich kleinste Bakterien.
Zwei Runden Applaus
Zum Schluss kommen an diesem Abend nicht die Marsmännchen, sondern der Showdown: „Alle Slammerinnen und Slammer auf die Bühne“, bittet Moderator Günter M. Ziegler: „Wer am meisten Applaus bekommt, gewinnt.“
Für Amitabh Banerji, den Mann mit dem Experimentier-Koffer, klatschen die meisten – doch KI-Forscher Christoph Benzmüller und seine Zwillinge haben die lautesten Fans. „Ich denke, wir sollten den Kindern zu ihrem Einfluss gratulieren“, sagt ein Zaungast zum anderen. Umringt von Gratulanten gehen Benzmüller und die Zwillinge Carla und Elena von der Bühne. Und mit den beiden Kleinen rollt an der Leine das selbstgebastelte Gehirn hinaus in die große Wissensstadt Berlin, über die sich die Dämmerung legt.