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Helfen, wo es möglich ist

Ukraine-Krieg: Wie gefährdete Forschende und Studierende an und von der Freien Universität Berlin unterstützt werden

09.06.2022

Günter M. Ziegler beim Vernetzungstreffen mit Studierenden im Freien beim Picknick

18 Studierende folgten der Einladung des Studierenden-Service-Center im April zu einem Vernetzungstreffen, an dem auch Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler teilnahm.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Olga Ryabchenkos Arbeitsplatz ist nun das Osteuropa-Institut auf dem Dahlemer Campus der Freien Universität. Aus Charkiw, der ukrainischen Stadt, in der die Historikerin an der Nationalen Pädagogische Skoworoda Universität Charkiw forscht, ist sie Ende März vor dem Krieg geflohen. „Ich habe Angst, nicht in mein altes Leben zurückkehren zu können. Angst, Familie und Kollegen zu verlieren. Meinen Arbeitsplatz. Meine Universität befindet sich mitten im Kriegsgebiet, die Perspektive ist ungewiss“, sagt die Wissenschaftlerin.

Die Region rund um Charkiw ist heftig umkämpft, mehrere Städte und Dörfer sind von den russischen Truppen besetzt. Seit mehr als 100 Tagen führt Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine. 6,9 Millionen Menschen sind laut Schätzungen des UN-Flüchtlingskommissariats inzwischen aus dem Land geflohen. Die Freie Universität Berlin hat den Angriffskrieg scharf verurteilt; seit Kriegsbeginn hat die Hochschule mehrere Maßnahmen ergriffen, um Menschen zu helfen, die die Ukraine verlassen mussten und an der Freien Universität ihr Studium oder ihre Forschungsarbeit fortsetzen möchten. 

„Es ist ganz selbstverständlich, dass die Freie Universität hilft, wo sie kann“, sagt Herbert Grieshop, Leiter der Abteilung Internationales. Gefährdete Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt finden an der Hochschule seit Jahren Unterstützung: durch das Programm Scholars at Risk etwa, an dem sich die Freie Universität seit mehr als 10 Jahren beteiligt.

Dass es in Europa zu einer solch dramatischen Lage kommt, habe auch an der Freien Universität erst einmal für einen Schock gesorgt. „Es gehört zu unserem Selbstverständnis als europäische Bildungseinrichtung und als internationale Netzwerkuniversität, bei diesem Krieg Haltung zu zeigen und Hilfe bereitzustellen“, sagt Herbert Grieshop weiter. Anpacken, dem Schrecken etwas entgegensetzen, das wollten viele: „Viele Mitglieder der Freien Universität haben gefragt: Wie kann ich helfen? Das war beindruckend“, sagt Herbert Grieshop.

Eingesetzt wurde etwa ein Programm mit Kurzstipendien für geflüchtete und bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Ukraine. Den Fachbereichen der Freien Universität wurden dafür Mittel zur Verfügung gestellt, sodass sie einzelne Forschende auf Zeit unterstützen können.

„Natürlich hoffen wir, wie alle Ukrainer und Ukrainerinnen, auf ein möglichst baldiges Ende des Krieges.“

Porträt von Olga Honcharova und Olga Ryabchenko nebeneinander am Tisch

Die Historikerinnen Olga Honcharova und Olga Ryabchenko sind aus Charkiw geflohen.
Bildquelle: Privat

Am Osteuropa-Institut der Freien Universität wurden bereits 15 dieser Stipendien vergeben. Auch Olga Ryabchenko und Olga Honcharova konnten über dieses Sonderprogramm als Gastwissenschaftlerinnen aufgenommen werden. Die Mittel dieser zwei Stipendien sind eine Kombination aus Geldern des Friedrich-Meinecke-Instituts am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften und des Osteuropa-Instituts. 

In Charkiw leitet Olga Ryabchenko das Institut für Geschichts- und Kulturwissenschaften. Sie forscht zur Geschichte des Alltags und des Verhältnisses von Gesellschaft und Herrschaftsapparat in der Sowjetukraine zur Zeit des Stalinismus. Hier in Berlin begleite sie ständig der Gedanke an die zerstörten Städte in der Ukraine, an das Sterben der Menschen, sagt die Historikerin. Für ihre Forschung hat Olha Ryabchenko in der Vergangenheit immer wieder mit dem Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin zusammengearbeitet. Dort hatte man sie auf die Stipendien für geflüchtete und bedrohte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an der Freien Universität aufmerksam gemacht.

Ihre Kollegin Olga Honcharova – ebenfalls aus Charkiw – forscht zur Politik des Sowjetregimes gegenüber ethnischen Gruppen in der Ukraine in den Jahren 1918 bis 1938. Aus dieser Zeit ließen sich einige Parallele zu heute ziehen, sagt die Historikerin. So versuche Russland, damals wie heute, seine Ziele zu erreichen, indem es militärische Stärke demonstriere. „Natürlich hoffen wir, wie alle Ukrainer und Ukrainerinnen, auf den Sieg und auf ein möglichst baldiges Ende des Krieges. Wir hoffen auf ein Treffen mit Kolleginnen und Kollegen und Studierenden an unserer Universität und auf stabile Arbeit“, sagt Olga Honcharova.

 

„Ich hatte ganz stark das Gefühl: Ich möchte helfen“

Porträt von Franziska Exeler

Franziska Exeler ist promovierte Historikerin am Friedrich-Meinecke-Institut und hat Mittel für "Remote-Stipendien" organisiert.
Bildquelle: Jasper Finke

Franziska Exeler ist Historikerin am Friedrich-Meinecke-Institut. Mehrere Forschungsaufenthalte haben sie in die Ukraine geführt, sie hält Kontakte zu Forschenden im Land und pflegt dort Freundschaften. „Nach dem ersten Schock nach dem Angriff Russlands hatte ich ganz stark das Gefühl: Ich möchte helfen“, sagt die Wissenschaftlerin.

Erste Stipendien, die ukrainische Forschende unterstützen, gibt es zu diesem Zeitpunkt Anfang März in Deutschland bereits – die meisten von ihnen aber waren ortsgebunden: Die Forschenden mussten an die jeweilige deutsche Hochschule reisen, die das Stipendium stellt. Was nicht allen möglich war. „Es war deshalb besonders wichtig, Stipendien einzurichten, die ortsunabhängig und niedrigschwellig sind“, sagt Franziska Exeler.

Von ihren Kontakten in der Ukraine hatte sie erfahren, dass nicht alle bedrohten oder gefährdeten Forschenden das Land verlassen konnten. Männer im wehrfähigen Alter dürfen seit Beginn des Krieges nicht ausreisen. Andere könnten nicht weg, weil sie ihre Familie versorgen müssen. 

Gemeinsam mit Kollegen am Friedrich-Meinecke-Institut sammelte die Historikerin Gelder über die einzelnen Arbeitsbereiche ein und nutzte zudem die Mittel, die dem Fachbereich seitens der Universitätsleitung zur Verfügung gestellt wurden. Ihr Kollege Grzegorz Rossoliński-Liebe, ebenfalls Historiker am Friedrich-Meinecke-Institut, konnte weitere Mittel über die Alfred Landecker Foundation einwerben. Insgesamt konnten so Stipendien für 24 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler generiert werden. Eine Überbrückungshilfe, wie Exeler erklärt. Drei Monate können ukrainische Forschende das Stipendium vorerst beziehen – auch Zeit, um Anträge für längerfristige Förderungen zu stellen. 

Der Großteil der Geförderten ist weiterhin in der Ukraine. Unter ihnen sind sieben Historikerinnen und Historiker aus Mariupol, die aus der umkämpften Stadt fliehen konnten und sich nun an verschiedenen Orten in der Ukraine aufhalten. „Die Stipendien nutzen sie auf unterschiedliche Art und Weise“,  sagt Exeler. Einige digitalisieren mit Hilfe der Gelder historische Dokumente, von denen sie im Zuge ihrer Vorkriegsforschungen Kopien erstellen konnten, damit diese nicht dem Krieg zum Opfer fallen. Andere, die alles verloren haben, nutzen die Gelder, um an einem anderen Ort neu zu beginnen. Zwei der Stipendien wurden in Kooperation mit dem Center for Urban History in Lviv eingerichtet; die Stipendiatinnen und Stipendiaten wirken hier dank der Unterstützung an einer Dokumentation des Krieges mit. 

„Solche 'Remote-Stipendien', bei denen die Geförderten in ihrem Land bleibe konnten, hatten sich die ukrainischen Forschenden explizit gewünscht. Meines Wissens gibt es dieses Format dank der Initiative von Franziska Exeler bislang so nur an der Freien Universität“, sagt Herbert Grieshop. 

Ukrainische Studierende können an der Freien Universität Kurse belegen

Aus der Ukraine geflohene Studierende werden an der Freien Universität regulär eingeschrieben oder über den Status Austauschstudierende oder in Nebenhörerschaft aufgenommen. Studierende, die noch an einer ukrainischen Hochschule eingeschrieben sind, können über die Nebenhörerschaft an der Freien Universität Kurse belegen und Leistungspunkte (ECTS) erwerben.

16 Studierende aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflohen sind, wurden zum Sommersemester nachträglich regulär an der Freien Universität immatrikuliert. Sie erfüllten alle Voraussetzungen – auch die sprachlichen – für Ihre jeweiligen Studiengänge. Viele weitere Studieninteressierte aus der Ukraine absolvieren zunächst Deutschkurse. Das Sprachenzentrum der Freien Universität bietet dazu Klasse in unterschiedlichen Niveaustufen für Einsteigende oder Fortgeschrittene an. Zudem hat die Universität mit Hilfe der ERG Universitätsservice GmbH zwei neue Kurse mit 40 Plätzen eingerichtet, in denen Deutsch für Personen angeboten wird, die noch keine Vorkenntnisse haben.

Knapp 200 Studierende mit ukrainischer Staatsangehörigkeit sind im Sommersemester an der Freien Universität immatrikuliert – nur einige mehr, als im Wintersemester zuvor. 

 

„Ich fühle mich einfach verpflichtet, den ukrainischen Studierenden den Einstieg ins Studium hier so leicht wie möglich zu machen“

Porträt von Agnesa Donets mit Sonnenhut im Freien

Agnesa Donets berät im Studierenden-Service-Center auf Ukrainisch.
Bildquelle: Liliya Melenteva

Wer aus der Ukraine geflüchtet ist und an der Freien Universität studieren möchte, trifft vermutlich auf Agnesa Donets. Die 20-jährige gebürtige Ukrainerin ist vor vier Jahren nach Deutschland gekommen und arbeitet beim Studierenden-Service-Center der Hochschule. Seit Mitte April dieses Jahres berät sie im Info-Service auf Ukrainisch und beantwortet erste Fragen zum Studium und zu den Deutschkursen, die Studieninteressierte zum Beispiel am Sprachenzentrum besuchen können. „Ich fühle mich einfach verpflichtet, den ukrainischen Studierenden den Einstieg ins Studium hier so leicht wie möglich zu machen“, sagt sie. 

Irina Protosova ist Mitte April aus Kiew an die Freie Universität gekommen. Sie studiert im zweiten Mastersemester Ökologie: „Deutsch habe ich schon an der Universität in Kiew gelernt.“ Irina ist mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder in Berlin, ihr Vater ist vorerst in ihrer Heimatstadt Kropivnitsky geblieben. Dort engagiert er sich ehrenamtlich in einer Gemeinde, verteilt Lebensmittelpakete an Geflüchtete aus anderen Regionen. „Das lenkt ihn ab“, sagt Irina Ptotosova. In Berlin möchte auch Irina sich ehrenamtlich engagieren, am liebsten zum Thema Ökologie.  

Im April war Irina Protosova bei einem Vernetzungstreffen ukrainischer Geflüchteter, das das Studierenden-Service-Center organisiert hat. 18 Studierende waren dabei, die meisten kommen aus Kiew. Universitätspräsident Günter M. Ziegler begrüßte die Studierenden und hieß sie an der Freien Universität willkommen. 

Über das Willkommen an der Freien Universität Berlin ist Agnesa Donets sehr froh. Dennoch sagt sie: „Ich möchte, dass alle, dies es möchten, so schnell wie möglich nach Hause zurückkehren können, um Freunde und Familie zu umarmen und für immer zu vergessen, wie sich der grauenvolle Fliegeralarm anhört.“

Weitere Informationen

Die wichtigsten Fragen und Antworten für Studierende, Studieninteressierte und Forschende sind auf einer Webseite zusammengetragen. Dort finden sich auch Informationen zu Hilfsaktionen von Universitätsangehörigen. Die Webseite wird laufend aktualisiert, deshalb lohnt es sich, regelmäßig darauf zu schauen.

Die Zentraleinrichtung Studienberatung und Psychologische Beratung informiert regelmäßig im Rahmen der Reihe „Uni im Gespräch" zum  Studium an der Freien Universität. Bis Juli 2022 gibt es noch 3 englischsprachige Informationsveranstaltungen für aus der Ukraine Geflüchtete (unabhängig von der Staatsangehörigkeit), die an der Freien Universität Berlin ein Studium aufnehmen oder weiterführen möchten.