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74 Jahre Freie Universität Berlin

Verleihung der Ernst-Reuter-Preise / „You’ve got work to do!“: Festrede von Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer

14.12.2022

Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht, warnte in ihrem Festvortrag: „Wo Gender-Lehrstühle gestrichen und Finanzmittel für Klimaforschung gekürzt werden sollen, da steht die Wissenschaft als Ganzes unter Druck.“

Susanne Baer, Richterin am Bundesverfassungsgericht, warnte in ihrem Festvortrag: „Wo Gender-Lehrstühle gestrichen und Finanzmittel für Klimaforschung gekürzt werden sollen, da steht die Wissenschaft als Ganzes unter Druck.“
Bildquelle: Christoph Assmann

Zum ersten Mal seit drei Jahren konnten wieder zahlreiche Gäste im Audimax zusammenkommen, um das Gründungsjubiläum der Freien Universität zu feiern: den 74. Jahrestag. Die Festrede hielt Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer über die drei Leitbegriffe, die die Hochschule in ihrem Siegel führt: veritas, iustitia, libertas. Außerdem wurden die besten Doktorarbeiten des Vorjahres ausgezeichnet.

Die Videoaufzeichnung sowie das Manuskript des Festvortrags von Prof. Susanne Baer sind auf der Seite des Alumni-Netzwerks der Freien Universität Berlin veröffentlicht. Dort finden sich auch fünf Videoproträts, in denen die Preisträgerinnen und Preisträger des Ernst-Reuter-Preises 2022 vorgestellt werden. Lesen Sie hier eine Zusammenfassung des Festvortrags von Prof. Susanne Baer.

Die Freie Universität wurde im Nachkriegsdeutschland, 1948, von Studierenden sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegründet, die selbst Erfahrungen mit Unfreiheit und Unterdrückung gemacht hatten. Daran erinnerte Universitätspräsident Günter M. Ziegler in seinem Grußwort. Doch inwiefern ist der Wunsch nach Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit, der der Universitätsgründung voranging, auch heute noch Verpflichtung? Auf diese Fragen gab Bundesverfassungsrichterin und Festrednerin Susanne Baer eine Antwort.

Ernst-Reuter-Preise 2022

Alljährlich werden mit den Ernst-Reuter-Preisen hervorragende Doktorarbeiten ausgezeichnet (v.l.n.r.): Sophie Metz, Merlin Kleoff, Christof Bertram, Michael Giesen, Ryanne Flock (nicht im Bild) mit Universitätspräsident Ziegler.

Alljährlich werden mit den Ernst-Reuter-Preisen hervorragende Doktorarbeiten ausgezeichnet (v.l.n.r.): Sophie Metz, Merlin Kleoff, Christof Bertram, Michael Giesen, Ryanne Flock (nicht im Bild) mit Universitätspräsident Ziegler.
Bildquelle: Christoph Assmann

Zunächst aber wurden die diesjährigen Ernst-Reuter-Preise verliehen. Die Auszeichnungen werden jährlich von der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität in fünf verschiedenen Fächergruppen für hervorragende Doktorarbeiten vergeben und sind mit jeweils 5000 Euro dotiert.

Der Tiermediziner Christof Bertram leistete Pionierarbeit auf dem Gebiet der Pathologie: In seiner Arbeit entwickelte er die weltweit erste Bildanalysesoftware für die Verwendung in der mikroskopischen Krebsdiagnostik bei Hunden.

Der Politikwissenschaftler Michael Giesen untersuchte, wie informelle Netzwerke innerhalb internationaler Organisationen wie der Vereinten Nationen die politische Entscheidungsfindung beeinflussen.

Sozialwissenschaftliche Untersuchungen des öffentlichen Raums sind im autokratischen China nur schwer durchzuführen. Ryanne Flock hat es in einer mehrjährigen Feldforschung geschafft, die Auseinandersetzungen zwischen staatlichen Ordnungskräften und ausgegrenzten „Vagabunden“ in der Megastadt Guangzhou zu untersuchen.

Dem Chemiker Merlin Kleoff gelang ein Durchbruch für die komplexe Synthese von Naturstoffen unter Luftabschluss. Dazu hat er mittels 3D-Druck einen Rohrreaktor gebaut und die Software zur Steuerung konzipiert.

Die Psychologin Sophie Metz behandelte in ihrer Dissertation die weitverbreitete Erkrankung der posttraumatischen Belastungs- und Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ihre Ergebnisse könnten in der Therapie wichtige neue Impulse geben.

Im Max-Kade-Auditorium: die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote

Im Max-Kade-Auditorium: die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote
Bildquelle: Christoph Assmann

„In all diesen vielfältigen, komplexen Fragestellungen geht es auch um Freiheit“, sagte die Berliner Wissenschaftssenatorin Ulrike Gote, die die Glückwünsche des Berliner Senats zum Geburtstag der Freien Universität übermittelte. „Denn um die Freiheit auch für die nach uns kommenden Generationen bewahren zu können, braucht die Gesellschaft Sie, die Universitäten und Forschungseinrichtungen, dringend.“

Bedrohte Wissenschaftsfreiheit

„Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“ So schlicht lautet Artikel 5, Absatz 3, Satz 1 des Grundgesetzes. Dass die verfassungsrechtlich garantierte Wissenschaftsfreiheit verteidigt werden will und niemals als selbstverständlich gegeben verstanden werden darf, war das Thema von Susanne Baers Festrede. Die Alumna der Freien Universität hat den Lehrstuhl Öffentliches Recht und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin inne und ist seit 2011 Richterin des Bundesverfassungsgerichts.

Nach drei Jahren pandemiebedingter Pause konnten zahlreiche Gäste im Audimax zusammenkommen, um den 74. Gründungstag der Freien Universität zu feiern.

Nach drei Jahren pandemiebedingter Pause konnten zahlreiche Gäste im Audimax zusammenkommen, um den 74. Gründungstag der Freien Universität zu feiern.
Bildquelle: Christoph Assmann

Wie steht es um die libertas, die Freiheit der Wissenschaft? Die Juristin hat Anlass zur Sorge. Weltweit erstarkten autoritäre und nationalistische Strömungen, die sich gegen Pluralität, Weltoffenheit und Toleranz richteten. Sie operierten mit „alternativen Wahrheiten“ und erzeugten ein wissenschaftsfeindliches Klima. Autokratische Regime beschneiden systematisch die Freiheit wissenschaftlicher Institutionen, und in vielen Ländern werden Forschende gegängelt oder müssen gar um ihr Leben fürchten.

Im Zentrum dieser Angriffe stünden gegenwärtig in Ungarn wie in Polen, in Brasilien wie in den USA oder der Türkei häufig Angriffe auf ein eher kleines Studienfach: die Gender Studies. Auch in Deutschland stellten Populisten die Erkenntnisse der Genderforschung in Abrede oder forderten gleich die Abschaffung des Fachs. „Vorsicht“, warnte Richterin Baer die Anwesenden, darunter Bildungsministerin Lisa Paus, auch sie Alumna der Freien Universität Berlin, und der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck. „Die trifft es nur zuerst. Dann trifft es andere.“

Libertas und iustitia gehen Hand in Hand

Nicht nur die Freiheit, auch die Wahrheit sei unter Druck geraten. Die Entwertung und das Leugnen des Faktischen, sofern es nicht in das eigene mit antiaufklärerischen Ressentiments geladene Weltbild passt, habe die veritas selbst „prekär“ gemacht. Die Angriffe auf die Wissenschaft reichten dabei weit über die Universität hinaus und seien zutiefst politisch, „weil sie die Funktion der Wissenschaft als Baustein der Demokratie in Frage stellen“.

Peter Lange, Universitätskanzler a. D., ist Vorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.

Peter Lange, Universitätskanzler a. D., ist Vorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V.
Bildquelle: Christoph Assmann

Die Freiheit der Wissenschaft meine keine „grenzenlose Selbstverwirklichung“ auf Kosten anderer. Sie ist gebunden an die anderen Grundrechte. In der Verfassung und auch sonst gehen Freiheit und Gerechtigkeit Hand in Hand. Deswegen habe das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen (etwa zu Studiengebühren oder zur Vergabe von Medizinstudienplätzen) betont, der Zugang zur Universität müsse „gleichheitsgerecht“ sein.

Aber ist das nicht schon längst der Fall? Nein, sagte die Verfassungsrichterin. „Die Zahlen sprechen dagegen.“ Die soziale Herkunft, sagte sie mit Nachdruck, dürfe auf keinen Fall darüber entscheiden, wer Zugang zur Welt des Wissens hat.

Freiheit ist Freiheit in Gesellschaft

Susanne Baer verwies auf die stagnierenden Zahlen bei der Gleichstellung von Frauen in der Wissenschaft und formulierte den Auftrag, jede und jeden vor allen Vorurteilen zu schützen, die mit dem Geschlecht oder jedwedem anderen Identitätsmerkmal verknüpft sind, das strukturell zu Ungleichheiten führt. Und sie richtete sich direkt an die Leitung der Freien Universität: „You’ve got work to do!“.

Der Freien Universität verbunden: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (M.), Ulrike Gote, Berliner Wissenschaftssenatorin (r.) und ihre Staatssekretärin Armaghan Naghipour (l.).

Der Freien Universität verbunden: Bundesfamilienministerin Lisa Paus (M.), Ulrike Gote, Berliner Wissenschaftssenatorin (r.) und ihre Staatssekretärin Armaghan Naghipour (l.).
Bildquelle: Christoph Assmann

Denn soll die Wissenschaftsfreiheit des Grundgesetzes auch in den nächsten 74 Jahren der Freien Universität mehr sein als eine hübsche Idee, reiche es nicht, sich auf das Bundesverfassungsgericht zu verlassen. „Diese Aufgabe, Wissenschaftsfreiheit als Baustein der Demokratie zu verstehen, trifft Sie alle!“

Weitere Informationen

Die Videoaufzeichnung sowie das Manuskript des Festvortrags von Prof. Susanne Baer sind auf der Seite des Alumni-Netzwerks der Freien Universität Berlin veröffentlicht. Dort finden sich auch fünf Videoproträts, in denen die Preisträgerinnen und Preisträger des Ernst-Reuter-Preises 2022 vorgestellt werden.

Lesen Sie hier eine Zusammenfassung des Festvortrags von Prof. Susanne Baer.