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„Gehen Sie simplen Ressentiments nicht auf den Leim“

Die langjährige Richterin des Bundesverfassungsgerichts Susanne Baer hielt anlässlich des Ernst-Reuter-Tages eine Rede, in der sie zur Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit aufrief

16.02.2023

Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer: „Den Zugang zur Wissenschaft müssen wir wirklich all denen eröffnen, die strukturell höhere Hürden nehmen müssen.“

Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer: „Den Zugang zur Wissenschaft müssen wir wirklich all denen eröffnen, die strukturell höhere Hürden nehmen müssen.“
Bildquelle: Christoph Assmann

Die Bundesverfassungsrichterin und Professorin an der Humboldt-Universität Susanne Baer sieht die Wissenschaft in Deutschland vor großen Herausforderungen. Beim Festvortrag zum Ernst-Reuter-Tag im Dezember 2022 zur Feier des 74. Gründungstages der Freien Universität rief sie Forschende dazu auf, sich für die Wissenschaftsfreiheit zu engagieren. Die Leitbegriffe der Freien Universität Berlin: Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit hätten aktuell große Bedeutung. Die Freie Universität führt seit ihrer Gründung im Jahr 1948 die veritas, iustita und libertas in ihrem Siegel.

Die Hochschulen seien in der Pflicht, für mehr Gerechtigkeit und Streitkultur zu sorgen, sagte Susanne Baer in ihrer Rede. Nötig sei „Wissenschaft, Aufklärung im besten Sinne, also kritische Reflexion, Streit, Aushalten von Differenz. Aber nicht: Destruktion, Manipulation, Attacke“. Gerade heute habe die Wissenschaft eine demokratische Bedeutung. Sie müsse nicht nur spannende Erkenntnisse liefern, sondern auch über die Wahrheit – die veritas – wachen. In Zeiten von „fake facts“ könne und müsse gerade Wissenschaft die Demokratie stützen. Denn ohne sie sei Freiheit – die libertas – für alle – als iustita – nicht zu haben.

Die Zeiten seien fordernd. Im Internet, aber auch in Leitmedien und in Parlamenten, so beschrieb Baer auch unter Verweis auf Entwicklungen in anderen Ländern, richteten sich Angriffe der Rechtspopulisten systematisch „gegen Wissen und Wissenschaft an sich“. So seien in jüngster Zeit „nicht nur politische Verhältnisse, sondern gerade und gezielt auch Wissen und Wissenschaft erheblich unter Druck geraten“.

Gleichzeitig erinnerte Baer daran, dass diese Angriffe auf die Wissenschaft nicht neu sind. So sei die Gender-Forschung von Anfang an als „unwissenschaftlich denunziert“ worden. Ebenso sei es der Antirassismus-Forschung ergangen. Zuletzt sei die Klima-Forschung attackiert worden. In der Corona-Pandemie wurde dann die Medizin angegriffen. Die Angriffe seien nicht nur kritisch, sondern destruktiv; sie setzten gezielt Vorurteile ein. Die Bundesverfassungsrichterin, die im Februar an die Universität zurückkehrt, rief dazu auf: „Gehen Sie simplen Ressentiments bitte nicht auf den Leim!“

Wahrheit, Gerechtigkeit, Freiheit

Anhand der Leitbegriffe im Siegel der Freien Universität Berlin – veritas, iustita, libertas – erläuterte Susanne Baer auch, wie sich Hochschulen und einzelne Forschende gegen diese Wissenschaftsfeindlichkeit engagieren könnten. Es gebe eine „ernste Wahrheitskrise“, konstatierte sie. „Die heutige Mischung aus Demagogie, gezielter Fehlinformation und alltagstauglichen alternativen Glaubenssätzen, die Feier des Vorurteils und die gezielte Dämonisierung der Anderen – auch als jene, die angeblich zensieren wollen –, der strategische Einsatz der Fälschung und der Lüge in den Echokammern zersplitterter Öffentlichkeiten – all das macht die veritas prekär. Aber genau da geht es um die libertas, die Freiheit. Und insgesamt steht damit die iustita, die Gerechtigkeit, in einer demokratisch-rechtsstaatlichen Gesellschaft zur Disposition.“

Die Universität als Institution werde gebraucht, um in der Gesellschaft friedlich miteinander auszukommen, betonte Susanne Baer: „Die Universität ist die Einrichtung – und damit die Chance – streitend miteinander umzugehen, um gute Gründe zu finden für das, was dann gilt.“ Das lasse sich an Hochschulen einüben. Die libertas sei hier geschützt, um den Forschenden zu überantworten, wie sie diese Chance zugunsten der veritas nutzen wollen. Aber die Funktion der libertas sei der Beitrag zum großen Ganzen – und damit zur iustita.

Die Juristin rief dazu auf, sich gerade auch dann für die Wissenschaftsfreiheit zu engagieren, „wenn Forschende angegriffen werden, deren Auffassung Sie nicht teilen“. Schon im Gründungsdokument der Freien Universität Berlin gehe es um eine Wissenschaft „frei von Furcht“. „Das ist nicht nur Furcht vor zu wenig Ausstattung oder vor zu viel politischer Steuerung“, sagte Baer. Schon gar nicht sei es Furcht vor Kritik. Gemeint sei vielmehr „Wissenschaft frei von Repression, Diskriminierung und

Diffamierung.“ Nach Ansicht der Richterin gibt es dabei für alle viel zu tun. Hochschulpolitisch gehe mit der Bindung an Wahrheit für die Universitäten die Aufgabe einher, Wissen nicht zu erzeugen, sondern auch zu vermitteln und die Kompetenz einzuüben, „zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden“ und zwischen Attacke und Kritik: „Universitäten sollten Kontroversen nicht verbannen oder beschweigen, sondern müssen sie austragen, damit wir mit ihnen umgehen können.“

In der Pflicht sieht Baer die Hochschulen auch, für Gerechtigkeit zu sorgen. Entscheidend sei der Zugang zur Universität – das Bundesverfassungsgericht habe entschieden, er müsse „chancengerecht“ sein. „Wir müssen fortlaufend dafür sorgen, dass tatsächlich diejenigen zum Studium zugelassen werden, die dafür geeignet erscheinen – unabhängig von der sozialen Lage der Eltern, vom Vornamen, vom Wohnort, der Schule, der Herkunft. Und wir müssen dafür sorgen, dass tatsächlich diejenigen gefördert werden, Preise erhalten, weiterkommen, die gut sind – innovativ, mutig, genau –, ohne Vorurteile.“

Echte Chancengerechtigkeit

Susanne Baer betonte die Chancengleichheit für Frauen. Gefordert sei diese aber für alle „Anderen“. „Den Zugang zur Wissenschaft müssen wir wirklich all denen eröffnen, die strukturell höhere Hürden nehmen müssen“, sagte die Juristin. In Deutschland dürfe ein Migrationshintergrund keine Hürde sein, und es sei wichtig, dass Menschen als erste in einer Familie ein Studium aufnehmen können. Darüber hinaus erinnerte Baer an die Geflüchteten, die in Deutschland leben: „Für die klugen Menschen aus dem Ausland bedeutet es: Wir müssen die aufnehmen, die vertrieben werden oder fliehen.“ Dies sei nicht allein ein Akt der Gnade und des Mitleids, sondern müsse, so Baer, „auf Augenhöhe gelebt werden – auch das ist iustita, und frei von Furcht – in der Wissenschaft, in einer für alle freien Universität“.

Die Aufgabe, Wissenschaftsfreiheit auch als Baustein der Demokratie zu verwirklichen, treffe Verantwortliche in der Politik, in der Gesellschaft und in den Hochschulen selbst. So seien das Präsidium und die Gremien gefragt, um die Fächervielfalt gegen die aktuellen Angriffe zu schützen. Zudem seien alle Angehörigen der Hochschulen „Träger des Grundrechts der Wissenschaftsfreiheit“, betonte Susanne Baer. Das lasse sich zugunsten der Demokratie und der Gerechtigkeit – der iustita – nutzen.

Dieser Artikel ist am 19.02.2023 in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität Berlin erschienen.

Weitere Informationen

Videoaufzeichnung der Festrede

www.fu-berlin.de/sites/alumni/teilnehmen/ert/ert-2022/festrede-baer/index.html