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Berlin, Harvard, Peking

Harvard-Professor William C. Kirby hielt einen Vortrag über die Geschichte der modernen Forschungsuniversität – deren Zukunft er in China verortet

06.01.2023

In seinem Vortrag erläuterte Harvard-Professor William C. Kirby, wie sich die globale Universitätsgeschichte entwickelt hat und wie sie sich weiter entwickeln könnte.

In seinem Vortrag erläuterte Harvard-Professor William C. Kirby, wie sich die globale Universitätsgeschichte entwickelt hat und wie sie sich weiter entwickeln könnte.
Bildquelle: Michael Fahrig

Die Universität im italienischen Bologna ist die älteste Universität der Welt. Sie wurde im Jahr 1088 gegründet. Doch die erste Universität im modernen Sinne ist erst rund 800 Jahre später in Preußen entstanden: 1809 als Berliner Universität gegründet, trug sie ab 1828 den Namen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin. Sie war die erste Universität, an der Wissen nicht nur weitergegeben wurde, sondern an der Lehrende zugleich auch Forschende waren. Und: Die akademische Autonomie und Freiheit von Lehre und Forschung wurden garantiert.

Rollenwechsel

„Die Berliner Universität hat im 19. Jahrhundert auf ganz neue Weise definiert, was es heißt, eine Universität zu sein“, sagt William C. Kirby. „Im 20. Jahrhundert haben amerikanische Universitäten diese Rolle übernommen — und im 21. Jahrhundert könnten es nun chinesische Universitäten sein“, stellt der Harvard-Professor fest.

Kirby ist einer der bedeutendsten China-Forscher der Gegenwart: Er ist T. M. Chang Professor of China Studies an der Harvard University und Spangler Family Professor of Business Administration an der Harvard Business School. Auf Einladung der Ernst-Reuter-Gesellschaft und des Konfuzius-Instituts stellte er im Dezember sein neues Buch „Empires of Ideas: Creating the Modern University from Germany to America to China“ an der Freien Universität vor.

Darin nimmt Kirby die Geschichte der modernen Forschungsuniversität auf drei Kontinenten in den Blick. Ausgehend von Berlin arbeitet sich Kirby in amerikanische Hochschulgeschichte vor und landet schließlich im China der Gegenwart. Auch die Freie Universität, mit der Kirby auf vielfältige Weise verbunden ist – Kirby ist Alumnus und seit 2006 Ehrendoktor des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften – spielt dabei immer wieder eine Rolle. 

Peter Lange, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft und ehemaliger Kanzler der Freien Universität, begrüßte den Gast.

Peter Lange, Vorstandsvorsitzender der Ernst-Reuter-Gesellschaft und ehemaliger Kanzler der Freien Universität, begrüßte den Gast.
Bildquelle: Michael Fahrig

In seinem Vortrag spannt Kirby den großen Bogen. Rückblicke in die deutsche Universitätsgeschichte verknüpft er mit persönlichen Erinnerungen. Er erzählt den Aufstieg der deutschen Hochschulen im 19. Jahrhundert und ihren Niedergang im nationalsozialistischen Deutschland. Er zitiert aus John F. Kennedys berühmter Rede am 26. Juni 1963 vor dem Henry-Ford Bau der Freien Universität und verquickt Betrachtungen über die Studierendenproteste der 1960er Jahre mit Erzählungen aus seiner eigenen Zeit in Berlin: In den 1970er Jahren kommt Kirby als Austauschstudent an die Freie Universität und besucht Seminare über marxistische Theorie.

Vielfältige Verbindungen

Der China-Wissenschaftler macht dabei immer wieder nachvollziehbar, wie sich deutsche Universitäten bis heute weiterentwickelt haben. Der Prozess ist ihm auch persönlich vertraut: Er war Mitglied des International Council, eines internationalen Gremiums, das die Freie Universität im Rahmen der Exzellenzinitiative in den Jahren 2012 bis 2018 beraten hat. „Die Freie Universität hat sich damals noch einmal neu erfunden“, sagt Kirby. „Sie ist auch dank ihrer Innovationsfähigkeit heute Weltspitze.“

Es seien amerikanische Universitäten gewesen, die im 20. Jahrhundert die weltweite Führungsrolle übernommen hätten, sagt Kirby. Doch auch ein jahrzehntelanger Platz 1, wie ihn Harvard in vielen internationalen Rankings beanspruchen könne, sei kein Garant für zukünftigen Erfolg. „Im Gegenteil“, sagt Kirby. „Es ist unser größtes Risiko.“ Denn Erfolg könne träge machen, die Bereitschaft für Veränderung und Reform verhindern. 

Die größte Gefahr für die amerikanische Hochschullandschaft sei aber die Erosion der staatlichen Universitäten. „Heute kürzen 44 von 50 US-Bundesstaaten das Budget ihrer Universitäten“, sagt Kirby. „Es trifft auch exzellente Universitäten wie Berkeley.“

China zieht an den USA vorbei

Demgegenüber werde in China in großem Stil in modernste Universitäten investiert. „Chinesische Universitäten verzeichnen weltweit mit Abstand das größte Wachstum“, sagt Kirby. „Und zwar sowohl, was ihre Größe als auch die Leistung betrifft.“

Man erlebe derzeit eine Verschiebung, in der chinesische Universitäten in weltweiten Rankings zunehmend mit europäischen und amerikanischen Universitäten um die vorderen Plätze konkurrierten. Kürzlich seien etwa die Universität Peking und die ebenfalls in Peking ansässige Tsinghua Universität im QS-Ranking an der amerikanischen Elite-Universität Yale vorbeigezogen.

Politischem Druck trotzen

Immer wieder machte Kirby in seinem Vortrag deutlich, dass er in Universitäten nicht nur zentrale Orte der Forschung und Lehre sieht, sondern auch Orte der Freiheit und des Protests. Er zeigte dabei auf, dass auch chinesische Universitäten Orte des kritischen Denkens waren – und dies bis heute sind. Doch unter Staatspräsident Xi Jinping wachse der Druck auf die Universitäten, auf kritische Studierende und Lehrende beständig. Auch an den Universitäten in Hongkong drohen kritische Lehrinhalte mehr und mehr unterdrückt zu werden.

Trotz des politischen Drucks seien chinesische Universitäten weiterhin Orte, die von jenen Werten der Freiheit von Forschung und Lehre geprägt seien, wie sie einst im Berlin des 19. Jahrhunderts entstanden waren. „Chinesische Universitäten sind im internationalen System der freien Wissenschaft groß geworden“, sagt Kirby. „Sie wollen diesem System weiter angehören – und es in Zukunft sogar anführen.“