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Was geht im Henry-Ford-Bau?

Beim Audiowalk „Schrittweise“ waren Studierende der Tanzwissenschaft eingeladen, spielerisch-experimentell den Vorgang des Gehens zu erkunden

01.03.2023

Kollektives Gehen im Henry-Ford-Bau: performative Impulse regten zum Nachdenken über den eigenen Körper im öffentlichen Stadtraum und das Zusammenwirken von vielen Körpern an.

Kollektives Gehen im Henry-Ford-Bau: performative Impulse regten zum Nachdenken über den eigenen Körper im öffentlichen Stadtraum und das Zusammenwirken von vielen Körpern an.
Bildquelle: Sören Maahs

Im Henry-Ford-Bau der Freien Universität, an einem Januarnachmittag. Studierende kommen an, eilen in die Hörsäle, plaudern, stehen herum, müssen woandershin. Die Einführungsvorlesung in die „Grundlagen der Datenerhebung und Statistik“ ist gerade zu Ende gegangen, einige Studierende aus der Vorlesung bleiben stehen und schauen dem rätselhaften Schauspiel zu, das sich ihnen bietet. 

Zwölf oder dreizehn Personen bewegen sich auffällig unalltäglich durch das hohe, 75 Meter lange gläserne Foyer: die Beine abwechselnd hoch in die Luft gestreckt, die Arme ausgelassen schlenkernd. Manche machen unerwartete Tänzelbewegungen, andere laufen seitwärts im Scherenschritt oder mit gebeugten Knien. 

Unbeteiligte mag die Choreografie an Monty Pythons „Ministry of Silly Walks“ erinnern. Die Auffälligkeit, soviel ist klar, besteht im Abweichen vom normalen Gang. „Der Regelbruch fühlt sich nicht direkt verboten an, aber auch nicht direkt erlaubt“, wird eine Teilnehmerin der anderthalbstündigen Aktion später sagen. 

Ungewöhnliche Gangarten, verdächtige Audiowalker

Die Aktion, das ist ein Audiowalk mit dem Namen Schrittweise, der von der Performance-Künstlerin Katja Münker ursprünglich für den Berliner Lustgarten konzipiert wurde. Die Teilnehmenden: Masterstudierende der Tanzwissenschaft, die ein Kolloquium der Tanzprofessorin Gabriele Brandstetter besuchen, und Beteiligte des Sonderforschungsbereich Intervenierende Künste

Gabriele Brandstetter, die erste Professorin für Tanzwissenschaft in Deutschland

Gabriele Brandstetter, die erste Professorin für Tanzwissenschaft in Deutschland
Bildquelle:  Edgar Berendsen

Katja Münker, die sich mit ihrer experimentellen Ästhetik im Spannungsfeld zwischen Performance Art, Spaziergang und Spiel bewegt, hat das Gehen zu ihrem Forschungsobjekt gemacht. Das primäre Arbeits- und Aktionsfeld der Künstlerin ist der öffentliche Raum, das alltägliche Leben auf den Straßen und Plätzen. Auch „Schrittweise“ findet deswegen nicht in einem institutionellen Kunstraum statt. 

Anfangs war allen Teilnehmer*innen vor dem Henry-Ford-Bau ein MP3-Player überreicht worden. Über Kopfhörer erhielten sie Anweisungen, die sie durch den Bau navigierten, ihnen Hinweise gaben und sie zu ungewöhnlichen Gesten anstifteten. So ließ der Audiowalk die Teilnehmer*innen am eigenen Körper erproben, dass es andere Gesten gibt, als die, die sie alltäglich in öffentlichen Gebäuden wahrnehmen oder selbst ausführen. 

„Gehe so, dass angenehme Wackel- und Schlenkerbewegungen in deinem Skelett entstehen“, sagt Katja Münkers Stimme im Kopfhörer. Dann ermuntert sie dazu, mit entweder zu schnellen oder viel zu langsamen Schritten den gewohnten Rhythmus des Ortes durcheinander zu bringen, Bewegungen anderer zu imitieren oder eine Ecke aufzusuchen, um sich vor Blicken eine Weile zu verstecken. 

Durch die Aktion soll untersucht werden, wie man sich öffentliche Orte mit experimentellen Choreografien aneignen kann. Über die synchron ablaufende Tonspur der MP3-Player schafft sie ein verbindendes Element unter den Teilnehmer*innen, die als zerstreutes Kollektiv individuell auf Handlungsangebote eingehen können. So werden Funktionsweisen öffentlicher Orte ausgelotet und die Grenzen des Gewohnten „ein bisschen gedehnt“, sagt Katja Münker.

Die Kunst, Schritte zu setzen

Für Gabriele Brandstetter, die seit Jahrzehnten in intensivem Austausch mit Kunst- und Kulturschaffenden steht, ist es nicht die erste Zusammenarbeit mit Katja Münker. Im Fokus von Brandstetters Arbeit steht – neben der Geschichte des Tanzes, seinen Stilen, Künstler*innen und Werken – auch die Bedeutung von Alltagsbewegung im Tanz. Was ist Gehen im Tanz? Wie wird Tanz zum Experimentierlabor für Bewegung? Wie spricht man über Bewegung? Wie lässt sich das Flüchtige fassen? 

Die Erkundung des Gehens dringt zu den motorischen Grundbausteinen der Tanzkunst vor; jede Aufführung basiert auf Schritten, auf Bewegungen im Raum. Ursprünglich ist Gehen ein funktionaler Akt: Er dient der Fortbewegung von A nach B. Das Herumspazieren, wie Münkers Audiowalk es vorschlägt, ist von einer klaren Funktionalisierung losgelöst. Ein solches „Kunst-Gehen“ führt nirgendwohin – es hat das Ziel, eine Tätigkeit bewusst zu machen, die wir meist für selbstverständlich halten.

„Die Teilnehmer*innen können den eigenen Körper bewusst als gestalterisches Mittel und ihre Wahrnehmung als Erkenntnismöglichkeit begreifen. Und sie reflektieren das Verhältnis zwischen alltäglicher Handlung und choreografierter Handlung in der Gruppe“, erläutert Gabriele Brandstetter. 

Auf diese Weise sei es möglich, die schmale Differenz zwischen Tänzen, die genaue Schrittmuster vorschreiben, und Formen von Choreografien, die mit individuellen, alltäglichen Bewegungen (wie dem Gehen) arbeiten, im Selbstversuch zu erkunden. Damit werde zugleich spielerisch wie auf intensive Weise die Wahrnehmung der eigenen Bewegung im geteilten öffentlichen Raum spürbar. 

Bewusstsein für das Kulissenhafte der Stadt

Halbzeit der Aktion: Die Stimme im Kopfhörer schlägt Dreh- und Richtungskombinationen vor, die sie mit Positionen auf einem gedachten Zifferblatt beschreibt: 12 Uhr bedeutet gerade voraus gehen, 3 Uhr nach rechts und so weiter. „Vielleicht entsteht ein Tanz?“, fragt die Stimme und überlässt es den Teilnehmer*innen, einen eigenen Ausdruck zu finden. 

Obwohl sie sich zerstreut und in unterschiedlichen Ecken des Foyers befinden, entsteht durch die Choreografie eine Bühne. Passanten schauen sich um, bleiben stehen oder setzen ihren Gang fort, während sie etwas irritiert zu den Tanzenden und Schlenkernden blicken. Einen kurzen Moment lang werden sie zu Zuschauern, zu Zeugen eines sich rätselhaft und vermeintlich ziellos bewegendenden Kollektivs. 

„Ich habe gemerkt, wie hinter mir ein Student seinen Hals reckte, und hab mich gefragt: Wird er den Wachschutz darauf aufmerksam machen, was ich für einer bin?“, sagte ein Teilnehmer im anschließenden Feedback-Gespräch. Verdächtiger Audiowalker! 

Professorin Brandstetter fand lobende Worte auch für die Umgebung: „Ich kannte den Henry-Ford-Bau bisher nur als nüchternen Ort mit Gebrauchswert. Zum ersten Mal habe ich auch die Schönheit der Architektur wahrgenommen.“ 

Eine Teilnehmerin sprach von Gefühlen der Unbefugtheit, der Unsicherheit, wie sie mit den Reaktionen der unbeteiligten Zuschauer umgehen sollte – und dass sie es dennoch als Geschenk empfunden habe, durch den Audiowalk eine ganz neue, konkretere Beziehung zum Uni-Gebäude und den dort ein- und ausgehenden Menschen herstellen zu können. 

Weitere Informationen

Gabriele Brandstetter war die erste Professorin für Tanzwissenschaft in Deutschland. In den vergangenen gut drei Jahrzehnten hat sie die Tanzwissenschaft maßgeblich geprägt und 2003 den bundesweit ersten Masterstudiengang für Tanzwissenschaft an der Freien Universität gegründet. Seit Januar 2022 setzt Gabriele Brandstetter die Verknüpfung von Tanz und Theorie im Rahmen ihres zusammen mit Kirsten Maar geleiteten SFB-Teilprojekts Intervenierende Choreographien fort.