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Ökosysteme statt Egosysteme

Die Philosophin Rosi Braidotti plädierte in der Hegel Lecture für eine „Philosophie des großen Ja“: Dem katastrophischen Weltzustand sei mit „affirmativer Ethik“ zu begegnen

17.08.2023

Rosi Braidotti, feministische Philosophin und emeritierte Universitätsprofessorin der Universität Utrecht.

Rosi Braidotti, feministische Philosophin und emeritierte Universitätsprofessorin der Universität Utrecht.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Jedes Jahr lädt das Dahlem Humanities Center der Freien Universität zur Hegel Lecture ein, einer festen Institution im akademischen Kalender Berlins, für die schon so renommierte Intellektuelle wie Judith Butler oder Homi Bhabha gewonnen werden konnten. Rosi Braidotti, eine herausragende Vertreterin des Posthumanismus, hielt im Juni die 9. Hegel Lecture. Mit ihrer „Philosophie des großen Ja“, so der Titel ihres Vortrags, wollte die Philosophin dem zahlreich erschienenen Publikum die Angst vor der Zukunft nehmen.

Rosi Braidotti widmete sich an diesem Sommerabend aber nicht allein philosophischen Fragen. Sie trat auch als Aktivistin auf, die den düsteren Denkerkollegen von Jordan Peterson bis Peter Sloterdijk etwas entgegensetzen möchte. Nebenbei empfahl sie Studierenden, die den größten Teil der etwa 300 Zuhörenden ausmachten, Stipendien zu beantragen, um den diskursiven Kampf fortzusetzen. Ihr Verständnis vom zuversichtlichen Denken führte sie auch performativ vor: Selten hat man im großen Hörsaal der Rostlaube so viel gelacht, mögen die Bedrohungen noch so ernst sein.

Das Publikum erschien zahlreich, vor allem viele Studierende waren in den Hörsaal in der Rostlaube gekommen.

Das Publikum erschien zahlreich, vor allem viele Studierende waren in den Hörsaal in der Rostlaube gekommen.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Vordenkerin des Posthumanismus

Rosi Braidotti ist eine Schülerin des Poststrukturalismus, ihr Examen hat sie bei Deleuze und Foucault gemacht. Geboren in Italien, aufgewachsen in Australien und ausgebildet an der Pariser Sorbonne, ist die seit 1988 an der Universität Utrecht lehrende Philosophin selbst „lebendiges Beispiel des nomadischen Denkens“, das die Grundlage vieler ihrer Werke bildet, sagte Theaterwissenschaftsprofessorin und Mitglied des Dahlem Humanities Center Doris Kolesch in ihrer Einführung. Rosi Braidotti stehe für eine Denkströmung, die den Menschen in einer vernetzten Welt irgendwo zwischen Säugetier und Maschine ganz neu verortet und ihn von seinem selbst erbauten Sockel stößt – und damit nichts weniger als den Humanismus ablöst. 

An der Freien Universität stellte Rosi Braidotti ihre „Ethik der Affirmation“ vor. Darin spielte die erwähnte Zuversicht eine besondere Rolle. Denn ihre Ethik hebt vor allem die kreativen und emanzipatorischen Gesellschaftskräfte hervor, das Transformative gegen das starre Festhalten am Status-quo. Um mögliche Kritik vorwegzunehmen, stellte Braidotti frühzeitig klar, dass es ihr nicht um optimistisches „Wellness-Denken“ geht oder darum, den Menschen Wohlgefühle zu verschaffen. Die affirmative Ethik fordere vom Einzelnen auch nicht, sich besser auf die Katastrophe einzustellen, so wie es neoliberale Selbstoptimierungsfantasien tun, sondern anzuerkennen, dass die Welt in einem katastrophischen Zustand ist. 

Rosi Braidotti sprach mit Witz und Verve gegen Resignation und Technologiefeindlichkeit.

Rosi Braidotti sprach mit Witz und Verve gegen Resignation und Technologiefeindlichkeit.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Zwischen rechter Panik und kapitalistischem Technikglauben

Für Braidotti heißt Affirmation also keineswegs Einverständnis mit dem Gegebenen. Anhand von drei Beispielen zeigte sie, mit welchen Problemen die affirmative Ethik sich befasst und wie sie mit ihnen umgeht. Zum Beispiel die Künstliche Intelligenz. Fraglos sorgen sich viele Menschen um die unvorhersehbaren Folgen denkender Rechenmaschinen. Zugleich können sie enorme Vorteile bringen. Affirmation meint nun wiederum nicht den Fokus auf die positiven Aspekte, da dies zu einem blinden Fortschrittsoptimismus führen könnte. Die Ideologie der Tech-Branche lehnt Braidotti ab. 

Noch größer ist aber ihre Ablehnung der Angstmacherei. Denn das Schüren von Ängsten hält sie für ein wesentliches Merkmal faschistischen Denkens, sei es die Angst vor dem Fremden oder Verschwörungen. Da liege es nahe, eine methodisch begründete Zuversicht entgegenzusetzen. Ihre affirmative Ethik diene als „Gegengift“ zum „Katastrophendenken“ der Rechten. 

Wie aber sollen wir gegen die vorhandenen Gefahren vorgehen? Braidotti empfahl eine pragmatische „Lagebeurteilung“. Die bedrohliche Technologie habe sich längst in unserem Alltag breit gemacht. Damit werde die Furcht vor einer zukünftigen Maschinenherrschaft überflüssig: Diese sei ja bereits unsere Realität. Implantate und andere Geräte seien längst ein Teil von uns geworden. „Handyverlust bedeutet Gedächtnisverlust.“ Eine technikfeindliche Haltung verkenne schlichtweg die Wirklichkeit. 

Nach dem etwa einstündigen Vortrag beantwortete Rosi Braidotti Fragen aus dem Publikum.

Nach dem etwa einstündigen Vortrag beantwortete Rosi Braidotti Fragen aus dem Publikum.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

Untrennbar mit der Natur verbunden

„Wir sind alle Teil des Problems, das wir zu lösen suchen“, sagte darum Braidotti. Man stehe nicht außerhalb, nur weil man dagegen sei. Wir müssten uns stattdessen fragen: Welche Spielräume können wir aushandeln, wenn niemand von uns auf den technischen Fortschritt verzichten will, der die Erde verschmutzt, seelische und soziale Probleme verursacht, aber auch enorme Vorteile bringt? „Lassen Sie uns akzeptieren, dass wir von Technologie abhängig sind. Aber lassen Sie uns öffentlich diskutieren, wovon wir abhängig sein möchten, anstatt es den großen Unternehmen zu überlassen.“ 

Die Notwendigkeit, eine Abhängigkeit zu akzeptieren, lässt sich auch ökologisch anwenden, wie Braidottis zweites Beispiel, die Klimakrise, zeigte. Das Klima sei nicht als problematischer Gegenstand zu denken, den es zu beherrschen gilt, sondern als etwas, mit dem die Menschen in unzertrennlicher Abhängigkeit verbunden sind. Mögen die Menschen auch für den Klimawandel verantwortlich sein – nun sei es von entscheidender Bedeutung, die Idee von Solidarität, die im Begriff der Menschheit enthalten sei, auch auf nichtmenschliche Lebewesen und die Erde selbst auszuweiten. 

Hier beruft sich Braidotti auf den Philosophen Spinoza. Aus seiner Idee der „radikalen Immanenz“ ergibt sich für Braidotti eine grundsätzliche Gleichheit alles Seienden. Der Mensch, über Jahrhunderte die Krone der Schöpfung, verliert seine Sonderstellung und wird zum Knotenpunkt einer weit verzweigten und vernetzen Welt, in der alles auf alles einwirkt und interagiert. Der paradoxe Twist dieser Perspektive ist, dass Braidotti zufolge sich das Wesen des Menschen besser verstehen lässt, wenn er eben nicht mehr im Zentrum unseres Weltverständnisses steht. Dafür fand sie die griffige Wendung: „Wir brauchen ein besseres Verständnis von Ökosystemen anstelle von menschlichen Egosystemen.“

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