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„Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“

Die Freie Universität lädt in ihrem Jubiläumsjahr dazu ein, sich an der Spendenaktion „75 Jahre freies Denken: Ein Grund zu feiern, ein Grund zu spenden“ zugunsten der Hilfsorganisation „Médecins Sans Frontières – Ärzte ohne Grenzen“ zu beteiligen

28.11.2023

Anlässlich ihres 75. Jubiläums ruft die Freie Universität Berlin zu Spenden für „Médecins Sans Frontières (MSF) – Ärzte ohne Grenzen“ auf.

Anlässlich ihres 75. Jubiläums ruft die Freie Universität Berlin zu Spenden für „Médecins Sans Frontières (MSF) – Ärzte ohne Grenzen“ auf.
Bildquelle: MSF / Skye McKee

Annika Schlingheider ist als Referentin für Humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen aktiv. Im Frühsommer dieses Jahres verbrachte sie fast drei Monate an Bord des Rettungsschiffes Geo Barents. Annika Schlingheider erläutert, wie Ärzte ohne Grenzen in der Seenotrettung im Einsatz ist, was ihre eigenen Aufgaben an Bord waren und wie sich Menschen für die humanitäre Organisation engagieren können.

Frau Schlingheider, wie sieht die Mission von Ärzte ohne Grenzen im Mittelmeer aus? 

Ärzte ohne Grenzen ist seit 2015 an Bord von Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer aktiv. Seit 2021 betreiben wir ein eigenes Rettungsschiff mit einer wechselnden Besatzung von 21 Frauen und Männern, die für Ärzte ohne Grenzen arbeiten. Dieses Team besteht aus Such- und Rettungsexpert*innen, einem fünfköpfigen medizinischen Team, Kulturvermittler*innen und anderen Fachkräften. Gemeinsam helfen wir Menschen, die auf dem Weg nach Europa in Seenot geraten.

Von Mai 2021 bis September dieses Jahres haben wir bereits über 9000 Menschen im Mittelmeer gerettet. Im November haben wir einen neuen Bericht No one came to our rescue herausgebracht, in dem wir über unsere Arbeit auf dem Mittelmeer berichten und zeigen, wie die Behinderung von Seenotrettung und die bewusste Untätigkeit europäischer Staaten zu mehr Toten im Mittelmeer führen. 

Wer sind die Menschen, die derzeit den Weg über das Mittelmeer auf sich nehmen?

Es sind Menschen, die aus den verschiedensten Gründen aus ihren Heimatländern fliehen müssen und keine andere Chance sehen, als diese lebensgefährliche Reise auf sich zu nehmen. Wir sind mit unserem Schiff vor allem im zentralen Mittelmeer unterwegs. Die Menschen, die bei uns an Bord landen, starten aus Libyen oder Tunesien, mit der Hoffnung, Europa zu erreichen. Wir sehen zum Beispiel Menschen aus Syrien, Bangladesch, Eritrea und Ägypten. Andere aus der Elfenbeinküste, Gambia und dem Sudan.

Die Lage auf den Booten in Seenot ist fast immer katastrophal. Es sind zum Beispiel alte Fischkutter oder Gummiboote. Es gibt meist keine Rettungswesten, nicht ausreichend Wasser und Nahrung, oft mangelt es an Benzin. Fast alle Boote sind hoffnungslos überfüllt. Einmal retteten wir Menschen von einem alten Fischerboot. Die Geretteten berichteten uns, dass es im Inneren des Bootes so voll gewesen sei, dass die Menschen aufgrund von Sauerstoffmangel reihenweise ohnmächtig wurden. Sie wechselten sich ab, wer drinnen und draußen sein durfte.

Allein in diesem Jahr sind bereits fast 2200 Menschen im zentralen Mittelmeer ertrunken oder als vermisst gemeldet worden – das heißt acht Menschen pro Tag haben ihr Leben allein in diesem Jahr im zentralen Mittelmeer verloren.

Annika Schlingheider, Referentin für Humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen

Annika Schlingheider, Referentin für Humanitäre Angelegenheiten bei Ärzte ohne Grenzen
Bildquelle: MSF / Mohamad Cheblak

Was war Ihre Aufgabe an Bord? 

Als Referentin für Humanitäre Angelegenheiten kümmere ich mich mit Kulturmediator*innen einerseits um den Schutz und die soziale Betreuung der Menschen an Bord. Nach einer Seenotrettung kläre ich zum Beispiel, wen wir genau an Bord haben. Wie viele Menschen nehmen wir auf, wie viele davon haben besondere Schutzbedarfe, sind also zum Beispiel unbegleitete Minderjährige oder allein reisende Frauen? Es geht auch darum, besonders schwerwiegende Fälle zu identifizieren und Behörden und Hilfsorganisationen an Land zu informieren, damit wir schnell an sie verweisen können.

Außerdem geben wir den Menschen Informationen darüber, was sie an Land erwartet, was ihre Rechte und Pflichten als Asylsuchende sind. Zugleich bin ich in meiner Position dafür verantwortlich, Daten für die politische Arbeit von Ärzte ohne Grenzen zu sammeln. Wenn die Menschen es möchten, führe ich zum Beispiel mit ihnen Interviews und dokumentiere ihre Berichte, was sie auf dem Weg oder in Libyen erlebt haben.

Was haben Ihnen die Menschen erzählt? 

Es sind oft sehr schwere Schicksale. Besonders im Gedächtnis ist mir ein junger Mann aus Ghana geblieben, ich nenne ihn John. Er berichtete mir, dass er in Libyen gefangen genommen und gefoltert wurde. An einen Stuhl gefesselt wurde ihm heißes Plastik auf den Körper gegossen. Während der Prozedur riefen die Täter seine Familie an, um Lösegeld zu erpressen.

Ich erinnere mich auch an eine junge, schwangere Frau aus Nigeria. Auch sie berichtete von schwerster Misshandlung und Vergewaltigung. Mich beeindruckte die enorme Energie, die sie trotz ihrer Erlebnisse an den Tag legte. Noch an Bord organisierte sie einen Italienischkurs. 

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden? Können Sie problemlos anlegen? 

In der Vergangenheit konnten wir nach einer Rettung in der Regel einen nahegelegenen Hafen auf Sizilien ansteuern. Jedoch hat die italienische Regierung unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in diesem Jahr ein neues Gesetz verabschiedet. Nach diesem Gesetz müssen zivile Seenotrettungsschiffe nach nur einer Rettung sofort den ihnen zugewiesenen Hafen ansteuern. Das Gesetz geht mit einer neuen Praxis einher, dass den zivilen Seenotrettungsschiffen oft weit entfernte Häfen zugewiesen werden.  Dies sind sehr oft Häfen im äußersten Norden des Landes, beispielsweise in Genua. Die Häfen sind teilweise mehr als 1000 Kilometer von unseren Einsatzorten entfernt. In diesem Jahr war unser Schiff 70 Tage allein damit beschäftigt, zu diesen Häfen und wieder zurück zu fahren. Das entspricht zwei Monaten, die uns nicht zur Verfügung stehen, um Menschen zu retten.

Wir haben den Eindruck, dass die italienische Regierung unsere Arbeit mit diesem Gesetz aktiv behindern will und dass das Gesetz gegen EU-Recht verstößt. Deshalb haben wir gemeinsam mit anderen Organisationen auf europäischer Ebene Beschwerde gegen dieses Gesetz eingereicht. Für uns ist klar: Es ist eine humanitäre und rechtliche Pflicht, Menschen in Seenot zu retten. Das zivile Seenotrettungsbündnis „United4Rescue“ drückt es so aus: „Man lässt keine Menschen ertrinken. Punkt.“

Wie kann man Ihre Arbeit unterstützen?  

Es gibt sehr viele Möglichkeiten! Ärzte ohne Grenzen finanziert sich rein über Spenden – deswegen freuen wir uns natürlich sehr über finanzielle Beiträge. Im Gegensatz zu vielen anderen größeren Organisationen finanzieren wir uns fast ausschließlich über Privatspenden. Das ermöglicht uns eine größere Unabhängigkeit. Im Gegenzug sind wir aber in besonderen Maß darauf angewiesen, dass wir viele Menschen mobilisieren.

Wir freuen uns deshalb sehr, wenn Menschen vor Ort über unsere Arbeit informieren. Man kann zum Beispiel Spendenaktionen wie Spendenläufe organisieren oder Vortragsabende gestalten. Ich habe gerade an Bord der Geo Barents realisiert, wie wichtig all die Menschen sind, die uns an Land unterstützen. Ohne Spenden und ehrenamtliches Engagement könnten wir derart großangelegte Missionen niemals betreiben. 

Weitere Informationen

75 Jahre freies Denken: Ein Grund zu feiern, ein Grund zu spenden.

Die Freie Universität Berlin hat sich den demokratischen Werten, sowie der Freiheit und Unabhängigkeit verpflichtet. Mit ihrer besonderen Gründungsgeschichte ist sie sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung stets bewusst, und sie hat eine lange Tradition, internationale humanitäre Anliegen zu unterstützen. Viele Mitglieder der Universität engagieren sich über ihre Arbeit hinaus auch persönlich für gemeinnützige Organisationen im In- und Ausland. Das Jubiläumsjahr 2023 soll daher nicht nur ein Grund zum Feiern sein, sondern auch dazu dienen, den Blick auf aktuelle Krisenherde in der Welt zu lenken und an die Tradition des Helfens und des Engagements anzuknüpfen.

Weitere Informationen zur Spenden-Aktion

Ärzte ohne Grenzen leistet in Konfliktgebieten, nach Naturkatastrophen und während Epidemien medizinische Hilfe für Millionen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, politischen Überzeugung oder ethnischen Zugehörigkeit. Rund 65.000 Mitarbeitende sind für Ärzte ohne Grenzen in mehr als 70 Ländern ständig im Einsatz: Fachleute aus Medizin, Psychologie und Logistik und andere. Die Organisation hat im Jahr 1999 den Friedensnobelpreis erhalten.

https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/