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Nicht ohne ihre Leitbegriffe: vom Wahrheitsauftrag der Universität

75 Jahre Freie Universität Berlin: Gesine Schwan hielt die Festrede am Ernst-Reuter-Tag

15.12.2023

Gelegenheit zum Austausch: Nach der Verleihung der Ernst-Reuter-Preise am Nachmittag und vor dem Festakt am frühen Abend auf der Galerie im Henry-Ford-Bau.

Gelegenheit zum Austausch: Nach der Verleihung der Ernst-Reuter-Preise am Nachmittag und vor dem Festakt am frühen Abend auf der Galerie im Henry-Ford-Bau.
Bildquelle: David Ausserhofer

Am 4. Dezember 1948 wurde die Freie Universität Berlin gegründet: von Studierenden, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die frei von politischem Einfluss lernen, forschen und lehren wollten. Maßgeblich unterstützt wurden sie dabei von den USA und der West-Berliner Politik, vor allem von Berlins Oberbürgermeister Ernst Reuter. Daran wird alljährlich am Gründungstag erinnert, dem Ernst-Reuter-Tag.

In diesem Jahr wurde das Feiern auf den 1. Dezember vorgezogen: Ein Freitag sei „feierlauniger“ als ein Montag, sagte der Universitätspräsident beim abendlichen Festakt im Audimax.

Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler im Gespräch zwischen Ernst-Reuter-Preisverleihung und Festakt am Abend. .

Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler im Gespräch zwischen Ernst-Reuter-Preisverleihung und Festakt am Abend. .
Bildquelle: David Ausserhofer

Der Feiertag hatte unterdessen schon am Vormittag begonnen: Der emeritierte Historiker Bernd Sösemann, der in den vergangenen Jahren bereits Werke von Friedrich Meinecke kommentiert und neu herausgegeben hat, präsentierte auf Einladung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. (ERG) und der Friedrich-Meinecke-Gesellschaft ein neues Buch über den Historiker und Gründungsrektor der Freien Universität:

„Friedrich Meinecke. Vernunftrepublikaner aus Überzeugung. Dokumente zur Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer 1926-1933“ heißt der erste Band einer Reihe, die Meineckes frühes Engagement für die Weimarer Republik und gegen den Nationalsozialismus dokumentiert.

Friedrich Meinecke hatte 1926 mit rund 100 Engagierten die „Vereinigung verfassungstreuer Hochschullehrer“ gegründet, später umbenannt in „Weimarer Kreis der deutschen Hochschullehrer“ und in „Freie Vereinigung für Verfassungsreform“. „Die Rednerliste auf den Tagungen im traditionsreichen Weimar liest sich mit den Namen Gerhard Anschütz, Adolf von Harnack, Gustav Radbruch, Richard Thoma, Ferdinand Tönnies oder Alfred Weber wie ein Auszug aus dem Who‘s Who der deutschen Staats- und Geisteswissenschaften“, sagte Bernd Sösemann.

„Das Einladungsschreiben klingt höchst aktuell, wenn es an politische und soziale Grundsätze und Werte erinnert“, so der Historiker: Demokraten hätten sich auch öffentlich deutlich zu artikulieren, ihre Verantwortung überall, auch im beruflichen Leben wahrzunehmen (als Gelehrte wie als Lehrer und Erzieher der akademischen Jugend). Dazu gehöre auch die Achtung vor den Rechten der akademischen Selbstverwaltung und die Stärkung der studentischen Selbstverwaltung. 

„Friedrich Meinecke gehörte zu denen, die sich frühzeitig, nicht erst in der manifesten Krise der frühen 1930er Jahre, für die Weimarer Verfassung und den Weimarer Staat engagierten, die für seine Unterstützung warben und dabei Gesicht zeigten“, sagte Paul Nolte, Professor für Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut, in seinem Grußwort, das er stellvertretend für den Geschäftsführenden Institutsdirektor hielt. Das Buch, so Nolte, „wirft ein neues Licht auf unseren Namensgeber Friedrich Meinecke und macht richtig stolz auf ihn“.

Am Nachmittag wurden die Ernst-Reuter-Preise verliehen: Sie würdigen herausragende Dissertationen junger Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler der Freien Universität. Gestiftet werden die Preise von der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V..

Der Tag schloss mit einem Festakt im Max-Kade-Auditorium im Henry-Ford-Bau, musikalisch begleitet von vier Blechbläsern der SpreeBlech-Kapelle.

Durch den Abend führte die Radio-Journalistin und Autorin Shelly Kupferberg, selbst Absolventin der Freien Universität in den Fächern Publizistik, Theater- und Musikwissenschaft.

Zu Beginn der Veranstaltung erinnerte sie daran, dass in diesem Jahr auch die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) mit ihren auf dem Campus Dahlem beheimateten Instituten 75-jähriges Bestehen feiert. Die MPG war 1948 als Nachfolgerin aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) hervorgegangen, deren erste Institute aus dem Jahr 1912 stammen.

Auch die Max-Planck-Gesellschaft feiert in diesem Jahr 75-jähriges Bestehen. Claudia Felser, Direktorin am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden, nahm am Festakt im Henry-Ford-Bau teil.

Auch die Max-Planck-Gesellschaft feiert in diesem Jahr 75-jähriges Bestehen. Claudia Felser, Direktorin am Max-Planck-Institut für Chemische Physik fester Stoffe in Dresden, nahm am Festakt im Henry-Ford-Bau teil.
Bildquelle: David Ausserhofer

Noch bis Januar 2024 erinnert eine Ausstellung im Garderoben-Foyer des Henry-Ford-Baus an die „Pioniere des Wissens“: Otto Hahn (Kernspaltung), Ernst Ruska (Elektronenmikroskop), Benjamin List (Chemische Katalyse) und zuletzt im Oktober 2023 Ferenc Krausz (Attosekundenphysik) sind nur einige der mit der KWG und MPG verbundenen Namen der Nobelpreisträger*innen.

Eröffnet wurde die Ausstellung von Professorin Claudia Felser, Wissenschaftliche Vizepräsidentin der Max-Planck-Gesellschaft. Im Gespräch mit Shelly Kupferberg sagte die Chemikerin, dass sie sich für die Zukunft mehr Nobelpreisträgerinnen wünsche: „Wir müssen schon in den Grundschulen anfangen, gegen gesellschaftliche Vorurteile anzukämpfen, damit künftig noch mehr Frauen in der Wissenschaft ankommen können.“

Universitätspräsident Günter M. Ziegler im Gespräch mit Moderatorin Shelly Kupferberg – auch sie ist Alumna der Freien Universität.

Universitätspräsident Günter M. Ziegler im Gespräch mit Moderatorin Shelly Kupferberg – auch sie ist Alumna der Freien Universität.
Bildquelle: David Ausserhofer

Um Kommunikation und Verständigung ging es auch Universitätspräsident Professor Günter M. Ziegler. Es gebe nicht die eine Geschichte der Freien Universität, sagte er in seiner Rede. „Die Geschichte der Freien Universität, das sind die Geschichten ihrer Fachbereiche und Institute, ihrer Einrichtungen und Gebäude, in erster Linie aber die ihrer Angehörigen, die sie über ein dreiviertel Jahrhundert geschrieben und mitgestaltet haben.“

Die Geschichten der Freien Universität hätten eines gemeinsam: „Es geht immer um das Zusammenwirken von Menschen, um Kooperation, um Ziele – im Idealfall gemeinsame Ziele –, um den Wunsch und die Vision, etwas zu gestalten, einen Beitrag zu leisten, irgendwo eine Verbesserung zu implementieren.“

Dialog und friedliches Zusammenleben auf dem Campus ermöglichen

Das ließe sich auf viele Bereiche auf dem Campus anwenden, passe aber ebenso für die Beziehungen der Universität nach außen. So gehörten auch die Geschichten der internationalen Beziehungen zur Historie der Freien Universität. Eine solche Geschichte sei der Beginn der Partnerschaft mit der Hebrew University of Jerusalem vor mehr als 65 Jahren – für die Freie Universität „heute eine unserer allerengsten Kooperationspartnerinnen“.

Von dort schlug der Präsident den Bogen in die Gegenwart: zum Angriff der Hamas auf Israel, zum Krieg in Nahost. „Auch auf dem Campus spüren wir die Spannungen. Binnen kürzester Zeit hat der Nahost-Konflikt auch unsere Hörsäle, Mensen und Korridore erreicht.“ In den vergangenen Wochen habe das Präsidium deshalb viele Gespräche mit verschiedenen Menschen und Gruppen geführt: vor allem mit jüdischen und palästinensischen Studierenden.

Der Austausch sei sehr hilfreich: „Wir haben gelernt, dass nicht alle Sichtweisen miteinander vereinbar sind, dass die Mehrheit aller Betroffenen beider Seiten sich aber erstaunlich einig ist in der Bewertung der Situation in Nahost. Und dass unser oberstes Ziel sein muss, Dialog und ein friedliches Zusammenleben hier bei uns auf dem Campus zu ermöglichen.“

Der Präsident betonte: „Jede und jeder muss sich hier sicher fühlen können.“ Der beste Weg dorthin sei, weiter miteinander zu reden, einander zuzuhören, in Austausch zu kommen, sich gegenseitig zu verstehen und dann gemeinsam nach Lösungen zu suchen. „Auf diese Art und Weise haben wir in den vergangenen 75 Jahren unheimlich viel geschafft, und werden es auch in Zukunft tun.“

Prominente Alumna: Gesine Schwan kam 1962 an die Freie Universität. Sie studierte Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft. Später wurde sie Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (hier: mit Shelly Kupferberg).

Prominente Alumna: Gesine Schwan kam 1962 an die Freie Universität. Sie studierte Romanistik, Geschichte, Philosophie und Politikwissenschaft. Später wurde sie Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut (hier: mit Shelly Kupferberg).
Bildquelle: David Ausserhofer

Gesine Schwan, Festrednerin an diesem Abend, nahm den Faden auf: Sie dankte dem Präsidenten für seine offenen Worte zur aktuellen politischen Situation und die beschriebenen Bemühungen, an der Universität Gesprächs- und Verständnisräume zu schaffen. Die Politikwissenschaftlerin und ehemalige Präsidentin der Europa-Universität Viadrina kennt die Freie Universität Berlin seit Langem: Sie hat in Dahlem studiert, war später Professorin und Dekanin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. Schon 1988, zum 40. Universitätsjubiläum, hatte sie die Festrede gehalten.

Unter der Überschrift „Was sollen Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit im Zeitalter von Fake News?“ stellte sie an diesem 1. Dezember 2023 die Gründungsleitbegriffe der Freien Universität – veritas, iustitia, libertas – in den Mittelpunkt ihrer Rede. Über die Gründungssituation der Freien Universität im Jahr 1948, als Freiheit die unabdingbare Voraussetzung für Wahrheit gewesen sei, kam sie zu John F. Kennedys Rede an der Freien Universität, 15 Jahre später, im Juni 1963. Der US-Präsident hatte die Begriffe Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit als Orientierungspunkte für eine gute Zukunft bezeichnet. Gesine Schwan zitierte Kennedy: Die Wahrheit „verlangt von uns, dass wir den Tatsachen ins Auge sehen, dass wir uns von Selbsttäuschung frei machen, dass wir uns weigern, in bloßen Schlagworten zu denken.“

Fünf Jahre später, 1968, sei der Anspruch vieler Studierender gewesen, sich freizumachen von „Selbsttäuschungen über das eigene Land, über die USA und den Westen“, erinnerte Gesine Schwan. In den Studentenprotesten sei es weniger um Tatsachen gegangen, als um „Deutungen der politischen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg, um Erbschaften des Nationalsozialismus in Deutschland, um den Vietnamkrieg, um multinationale Konzerne in der Dritten Welt“. Mit Blick auf den Wahrheitsbegriff fügte sie hinzu: „Leise Stimmen und faires Abwägen hatten es damals nicht leicht, obwohl das unabdingbar zur universitären wissenschaftlichen Wahrheitssuche gehört.“

Heute seien die Themen der Achtundsechziger wieder „auf der Tagesordnung“ – eine besondere Herausforderung: das „Wiederaufleben autoritärer Stimmungen und rechtsextremer Strömungen innerhalb der liberalen Demokratien“. Hinzu komme, dass „wichtige Politiker mit ihren Anhängern die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge strategisch verwischen“. Namentlich nannte sie Donald Trump und Wladimir Putin.

Welche Verantwortung tragen Universitäten?

„Es geht heute also wieder und weiter um Wahrheit und in der Folge auch um Gerechtigkeit und Freiheit, aber die Einstellungen dazu sind im Unterschied zur Zeit des Kalten Krieges komplizierter, umstrittener, unübersichtlicher und verwirrender geworden.“ Die Politikwissenschaftlerin warnte: „Das hat potenziell zerstörerische Konsequenzen für unsere offenen Gesellschaften und Demokratien.“ Sie fragte: „Trägt die Universität, trägt zumal die Freie Universität in dieser Gemengelage eine besondere Verantwortung für ihre drei Losungen? Und wie könnte sie der gerecht werden?“

Dass Universitäten eine besondere Verantwortung tragen, habe Hannah Arendt in ihrem Essay „Wahrheit und Politik“ von 1969 bejaht, erläuterte Gesine Schwan. Dort führt sie die Unterscheidung von „Tatsachenwahrheit“ und „Wahrheiten der Vernunft“ ein. Vernunftwahrheiten sind Arendt zufolge mathematische, wissenschaftliche und philosophische Wahrheiten. Sie beruhen auf Prämissen, etwa historischen Vorannahmen oder Axiomen, je nach Disziplin. Auf Vernunftwahrheiten müsse man sich nicht einigen, so Gesine Schwan, da diese auch nebeneinanderstehen könnten: „Eine pluralistische Gesellschaft lebt mit solchen verschiedenen Wahrheitsperspektiven, und wenn sie Glück hat, finden in ihr dazu lebendige Dialoge statt, mit Begründungen und in gegenseitiger Fairness und Wertschätzung.“

Inter- und Transdisziplinarität als Schlüssel

Anders die Tatsachenwahrheiten, bei denen es nicht um Kontextualisierung gehe. Deren Gegensatz sei die Lüge. Mit einem Zitat Hannah Arendts erklärte Gesine Schwan anschließend, es gebe keinen Ersatz für die Wahrheit. „Konsequentes Lügen“, zitierte sie Hannah Arendt weiter, sei „im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten“.

Universitäten und Gerichte haben laut Hannah Arendt „zumindest in konstitutionellen Ländern“ die Kraft, Lügen zu entkräften und für die Wahrheit zeugen können. Der Grund: ihre Unabhängigkeit von politischer Macht. Doch wie, fragte Gesine Schwan, kann dies gelingen? Ihre Antwort: durch Inter- und Transdisziplinarität. Denn Wahrheit, so die Politikwissenschaftlerin, brauche für die Begründung von Fragestellungen und Thematisierungen die Losung der Gerechtigkeit: „Je perspektivenreicher und inklusiver Forschungsfragen angegangen werden (auch wenn sie dann, um praktisch verfolgt werden zu können, oft wieder eingegrenzt werden müssen), desto größer ist die Chance, dass sich wissenschaftliche Freiheit durchsetzt, weil keine Perspektiven unterdrückt oder ausgelassen werden.“

Die Leitmotive der Freien Universität – Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit –, sagte Gesine Schwan am Ende, böten zwar „als Begriffe keinen direkten erfolgreichen Weg, Fake News zu entlarven und zu entkräften“. Sie lieferten jedoch „einen unverzichtbaren Kompass“ und schärften das Bewusstsein dafür, „dass die gesuchte Wahrheit nie absolut oder unumstößlich gefunden oder behauptet werden kann. In dieser selbstreflektierten Spannung helfen sie, der Wahrheit verpflichtet und verantwortlich gegen Fake News, gegen Lüge, und für das Ernstnehmen des Wahrheitsauftrags von Universitäten auch öffentlich zu streiten.“

„Wir müssen es wollen“

„Dieser Wahrheitsauftrag“, schloss Gesine Schwan, „kann auf Gerechtigkeit nicht verzichten, um für freiheitliche Gesellschaften den gemeinsamen Boden, wo er verloren gegangen ist, wieder zu gewinnen und ihn zu bewahren. Das gelingt nicht von selbst. Wir müssen es wollen. Es ist anstrengend, aber möglich.“

Weitere Informationen

Die Sonderspendenaktion „75 Jahre freies Denken: Ein Grund zu feiern, ein Grund zu spenden“ zugunsten der internationalen Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ läuft noch bis 31. Dezember 2023. Jeder Beitrag ist willkommen, allen Spender*innen sei herzlich gedankt!