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„Damit man sich endlich hinsetzt und schreibt“

Zwei Studierende berichten aus der Schreibwerkstatt mit Lutz Seiler, Gastprofessor am Peter Szondi-Institut

19.12.2023

Rachel Ulrich und Sidney Kaufmann studieren an der Freien Universität und sind zwei von achtzehn Teilnehmern im Autorenkolleg von Lutz Seiler.

Rachel Ulrich und Sidney Kaufmann studieren an der Freien Universität und sind zwei von achtzehn Teilnehmern im Autorenkolleg von Lutz Seiler.
Bildquelle: Privat

„Für mich persönlich ist der Kontakt zu anderen, die schreiben, äußerst wichtig. Das ist für mich Teil des Schreibens“, sagt Rachel Ulrich, die an der Freien Universität Deutsch und Philosophie auf Lehramt studiert. Sie gehört zu den achtzehn Studierenden der Schreibwerkstatt, die der Autor Lutz Seiler im Rahmen der „Gastprofessur für deutschsprachige Poetik“ am Peter Szondi-Institut anbietet. 

Ulrich, die nach ihrer Gärtnerausbildung auf dem zweiten Bildungsweg zum Abitur gekommen ist, sucht Feedback zu ihren Texten, möchte sich Kritik aussetzen, schätzt den Austausch mit jemandem, der professionell schreibt. „Die Deutungen und Meinungen von Außenstehenden fließen dann wieder in mein Schreiben ein“, sagt sie. Durch die intensive Auseinandersetzung mit Eigen- und Fremdtexten schärfe sich das literarische Formbewusstsein, das auf die kreative Arbeit an längeren Projekten vorbereite. 

Lutz Seiler hat zwei Romane und mehrere Essay- und Gedichtbände veröffentlicht (zuletzt „schrift für blinde riesen“), er wurde vielfach ausgezeichnet, in diesem Jahr unter anderem mit dem Büchner-Preis, dem wichtigsten deutschen Literaturpreis, und dem Berliner Literaturpreis. Letzteres ist verbunden mit der Berufung auf die seit 2005 bestehende „Gastprofessur für deutschsprachige Poetik“ an der Freien Universität und eine Schreibwerkstatt für Studierende aus Berlin und Brandenburg, die selber schreiben lernen möchten, vielleicht sogar ein Buch. Zu jeder Sitzung bringen die Studierenden eigene Schreibprojekte mit und lesen daraus vor. Auf dieser Basis setzen sie sich mit den Texten ihrer Kommiliton*innen auseinander und geben einander, gemeinsam mit dem Dozenten, Rückmeldung. Im Unterschied zur traditionellen Literaturwissenschaft liegt das Augenmerk nicht auf dem Resultat, sondern auf dem Prozess des Schreibens selbst.

Möglichkeit für Gemeinsinn

Für Sidney Kaufmann, im Masterstudiengang Angewandte Literaturwissenschaft, ist die Schreibwerkstatt auch Versuchslabor. Neben dem Studium arbeitet er als Lektor bei einem Online-Magazin. „Im Seminar kommen wir mit ganz verschiedenen Texten und Interessen zusammen. Und dann versuchen wir, wohlwollend kritisch zu diskutieren.“ Für ihn ist die Werkstatt ein Weg, seine Texte vor Publikum zu testen. „Ich will auch unterhalten. Leute sollen Spaß haben, wenn sie etwas von mir lesen. Hier kann ich schauen, ob der Text so wirkt wie geplant.“

Austausch, Inspiration, Kritik, das geht nirgendwo so intensiv wie in einer Gruppe. Was sonst dem Organisationstalent des Einzelnen obliegt, findet in verdichteter Form in dem Schreibseminar statt. „Es ist eine gute Gelegenheit, einen Profi vor sich zu haben, der einen Blick auf unsere Texte wirft und Erfahrungen teilt“, sagt der Student mit Blick auf Werkstattleiter Seiler. 

Suchbewegungen auf dem Weg zum eigenen Schreiben 

Wie würden sie Lutz Seiler als Dozent beschreiben? Ernsthaftigkeit zeichne ihn aus, findet Rachel Ulrich, mit den vorgetragenen Texten gehe er respektvoll um – und „nichts beschönigend“. Ein gutes Maß an Empathie habe er auch. „Er kann sich gut in eine Person hineinversetzen, die schreiben möchte und daran zweifelt.“

Lutz Seiler gebe den angehenden Autorinnen und Autoren guten Rat in Bezug auf ihr Handwerk und jedem Studierenden individuelle Lektüreempfehlungen. Doch resultiere dies nicht in Bewertungen im schulischen Sinn, sondern in einer spezifischen Form der Kritik. „Ich habe nicht den Eindruck, dass er eine einheitliche Vorstellung darüber vermitteln möchte, was gute Literatur ist oder zu sein hat“, sagt Rachel Ulrich. „Ich glaube, es geht ihm eher darum: Wie kann der Kern einer Erzählung stärker herausgearbeitet werden?“ 

Sidney Kaufmann ergänzt: „Lutz Seiler argumentiert immer aus der Perspektive des Texts. Was dient ihm, was nicht?“ Je nach Text solle das Zarte in seiner Zartheit unterstützt werden oder das Groteske in seinem Grotesksein. „Wenn eine Passage mit dem Tonfall bricht, fragt er nach: Soll hier bewusst ein Effekt erzielt werden oder wurde nur etwas übersehen?“ 

Bei der Antrittsvorlesung: Lutz Seiler im November 2023 an der Freien Universität.

Bei der Antrittsvorlesung: Lutz Seiler im November 2023 an der Freien Universität.
Bildquelle: Sören Maahs

Akribie des Handwerkers und Dichters 

Lutz Seiler selbst, 1963 in Ost-Thüringen geboren, ist das Schreiben nicht in die Wiege gelegt worden. Er machte zunächst eine Maurerausbildung, arbeitete auf dem Bau. In seinem Gedicht „ich hab dem vogel stimmen nachgesagt“, das er bei seiner Antrittsvorlesung an der Freien Universität Mitte November vortrug, beschreibt er das so: „ich war ein maurer, nicht zum spaß / (‚ein guter estrich sandet nicht‘). 

Auch Seilers Romanhelden führen ein Doppelleben als Dichter und Handwerker, und dieses intensive Nahverhältnis zum Stofflichen spiegelt sich in seiner Poesie: Die Akribie, mit der das lyrische Ich des Gedichts die „grundredensarten“ und die „sprachgliedmaßen“ einübt, korrespondiert mit der Sorgfalt beim Verlegen eines „guten estrichs“. Da kam für einen Moment der leidenschaftliche Baufacharbeiter hervor, und der Schriftsteller Seiler legte die vorbereitete Rede kurz zur Seite: „Das verfolgt mich bis heute. Der sandet ab! Was soll das! Der darf nicht absanden, denn wenn Sie den hundert Mal gefegt haben, ist er weg!“

Er trage seine Gedichte lange mit sich herum, bis er mit dem Schreiben beginne, erzählte Seiler. Das Material seines Gedichts „das neue reich“, das fast ironisch an die tristen architektonischen Überreste der DDR erinnert und das er an diesem Abend ebenfalls vorlas, muss schon mit ihm unterwegs gewesen sein, als er im Sommer 2001 das Gelände seiner ehemaligen Kaserne besichtigte (oder was von ihr noch übrig war): „Ich habe alles mitgeschrieben. Im Notizbuch tauchen die ‚waffelkachel‘ und der ‚fischgrätenestrich‘ zum ersten Mal auf, etwa acht Jahre vor Entstehung des Gedichts.“ Seine Gedichte brauchen den zeitlichen Abstand, tragen ihren Stoff zusammen und bewahren ihn auf in einer Zeit, in der noch nichts von ihnen zu sehen war. 

Scham und Freude

Während Seiler in seinem Werk aus wenigen Motiven – konkrete Dinge wie Füller, Tinte und Löschblatt – ein eigenes, autobiographisch gefärbtes Bezugsystem baut, trifft er in der Schreibwerkstatt auf die unterschiedlichen literarischen Zugänge der Studierenden. So verschieden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, so vielfältig auch ihre Themen: „Im Moment schreibe ich über Euphorie und Enttäuschung in sozialen Situationen: Sex, Utopie, Katastrophe“, sagt Sidney Kaufmann. 

Rachel Ulrich, die sich mit einem dreiseitigen Text über Sehnsucht und Einsamkeit beworben hatte, macht die eigene Biographie zum Stoff ihres Schreibens. „Man gibt viel von sich preis, macht sich verletzlich“, sagt die Studentin. „Der Vortag ist schon ein wenig mit Scham besetzt – fast schon eine Mutprobe.“ Sidney Kaufmann dagegen empfindet nichts als ungezügelten Spaß daran, seine Texte vorzutragen. „Ich freue mich wahnsinnig auf die öffentliche Abschlusslesung!“

Ein nicht unwesentlicher Aspekt eint die beiden Studierenden – und vermutlich viele angehende Schriftsteller*innen: „Man braucht diesen Hauch von Verpflichtung, damit man sich endlich hinsetzet und schreibt.“ 

Weitere Informationen

Bei der öffentlichen Abschlusslesung am 14. Februar 2024 präsentieren die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kollegs von Lutz Seiler ihre Texte. Der Eintritt für die Veranstaltung im Literarischen Colloquium Berlin ist frei. 

Zeit & Ort

  • Mittwoch, der 14. Februar 2023 um 19.30 Uhr
  • Literarisches Colloquium Berlin, Am Sandwerder 5, 14109 Berlin