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„Eine Mahnung an uns alle, die zeigt, was Hass anrichten kann“

#WeRemember – Angehörige der Freien Universität Berlin gedachten der Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bei einer Mahnwache auf dem Campus in Dahlem

02.02.2024

Universitätspräsident Günter M. Ziegler legte wie viele Anwesende Kränze und Blumen vor dem Eingang des Gebäudes nieder.

Universitätspräsident Günter M. Ziegler legte wie viele Anwesende Kränze und Blumen vor dem Eingang des Gebäudes nieder.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Wir müssen daran erinnern“, sagte Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität, bei einer Mahnwache am 26. Januar auf dem Grundstück der Ihnestraße 22 in Berlin-Dahlem. Zahlreiche Angehörige der Universität waren dort zusammengekommen, um der Opfer des Nationalsozialismus zu gedenken und an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu erinnern.

In dem Gebäude, in dem heute Teile des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin untergebracht sind, befand sich von 1927 bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Die dort arbeitenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren mit ihrer Forschung zu Fragen der Vererbung an den nationalsozialistischen Verbrechen beteiligt. Von 1927 an hatte der Anthropologe und Rassenhygieniker Eugen Fischer in der Ihnestraße 22 gearbeitet. Otmar von Verschuer, der 1942 die Nachfolge Eugen Fischers als Institutsdirektor antrat, forschte in dem Gebäude unter anderem an Zwillingen. Er wollte nachweisen, dass Krankheiten und psychische Störungen, aber auch charakterliche Neigungen, erblich sind. Sein Doktorand war Josef Mengele, der später als Arzt im Konzentrationslager Auschwitz menschenverachtende medizinische Experimente an Häftlingen durchführte – und der Organe und andere Körperteile von im KZ ermordeten Menschen zu Forschungszwecken ins Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik schicken ließ.

„Eine Aufforderung, nicht wegzuschauen, sondern zu handeln“ –  die Rede von Günter M. Ziegler

In seiner Rede machte der Universitätspräsident deutlich, was das Erinnern an die Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus für die Gegenwart bedeutet:

„Es bleibt die Empörung. Es bleibt die Widersinnigkeit und Sinnlosigkeit der millionenfachen Ermordung von Jüdinnen und Juden, Sinti und Sintizze, Roma und Romnja, von Homosexuellen, von Menschen mit Behinderung und vielen mehr. Dieses Ausmaß des Schreckens in Worte zu fassen, fällt schwer. Es ist eigentlich nicht möglich. Mit dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust und dem nationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, die beide am 27. Januar begangen werden, erinnern wir an die schier endlose Zahl von Schicksalen, von Opfern einer grausamen staatlichen Politik des Rassismus und Antisemitismus. Wir versuchen, an die einzelnen Menschen zu erinnern. All diese Opfer sind eine Mahnung an uns alle, die zeigt, was Hass anrichten kann. Sie sind eine Aufforderung, nicht wegzuschauen, sondern zu handeln – auch heute. 

Dieser Schrecken war nicht nur die Tat einer kleinen Gruppe von Menschen, deren Namen für immer aufs Grausamste mit der deutschen Geschichte verbunden sein werden. Dieser Schrecken ist erst möglich geworden durch eine große Mehrheit, die geschwiegen hat und einfach mitgelaufen ist. Dieser Schrecken ist auch an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen geschehen. Eben auch hier. Hier in diesem Gebäude, dem ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Hier fanden menschenverachtende Untersuchungen an Jüdinnen und Juden, Sinti und Sintizze, Roma und Romnja, an People of Colour und an Menschen mit Behinderungen statt, die wir heute kaum in Worte fassen können. Aber wir müssen es. 

Ausdrücklich danken möchte ich auch für die Unterstützung, Organisation und Zuarbeit für heute von Professor Bernbeck und Professorin Pollock sowie dem Forschungsprojekt ‚Geschichte der Ihnestraße 22‘ unter der Leitung von Frau Dr. Bauche und ihren Mitarbeiter*innen, die eine wichtige Arbeit für die Aufarbeitung der Verbrechen der deutschen Forschung und Wissenschaft während des Nationalsozialismus leisten. In diesem Jahr wird dann auch die lang vorbereitete Ausstellung ‚Erinnerungsort Ihnestraße 22‘ eröffnet, auf die wir alle sehr gespannt sind. Weil wir wissen, dass sie wichtig ist. 

Gerade jetzt, wo es wieder einen signifikanten Anstieg antisemitischer und auch antimuslimischer Taten in Deutschland und der Welt gibt, aber auch hier in Berlin, sind wir alle dazu aufgerufen, zu handeln und nicht wegzuschauen. Und mit ‚wir‘ meine ich uns als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, uns als Forschungseinrichtung und uns als Menschen. Lassen sie uns gedenken an mehrere Millionen einzelne Menschen, die Opfer eines grausamen Systems aus Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung geworden sind. Und lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass solch ein Verbrechen nie wieder wiederholt werden kann.“ 

Den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Gehör verschaffen

Während der Gedenkveranstaltung lasen Mitglieder der Freien Universität Texte von Opfern des Nationalsozialismus vor, unter anderem des italienischen Schriftstellers Primo Levi. 

Im Rahmen des Forschungsprojekts Ihnestraße 22 wurden die Biografien dreier Menschen – Agnes W., Otto Rosenberg und Ilse Weber – recherchiert, deren Schicksal im Zusammenhang mit den im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik geschehenen Verbrechen steht. Studierende und weitere Universitätsangehörige lasen aus Briefen und Erinnerungen von Agnes W., Otto Rosenberg und Ilse Weber:

Agnes W. wuchs in Berlin in armen Verhältnissen auf und konnte nur wenige Jahre die Schule besuchen. Im Jahr 1935 wurde ihr von einem Arzt attestiert, sie leide an „angeborenen Schwachsinn“. Mit dieser Diagnose wurden Menschen, deren Verhalten und Bildung vermeintlich nicht der Norm entsprachen, für krank und behindert erklärt. Agnes W. sollte deshalb sterilisiert werden. Mehrmals wehrte sie sich gegen diesen Beschluss. Ihre Beschwerden wurden unter anderem von Eugen Fischer abgewiesen, dem Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Im November 1936 wurde die 42-jährige alleinerziehende Mutter dreier Kinder gegen ihren Willen sterilisiert. 

Otto Rosenberg, ein Berliner Sinto, wurde im Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik von der „Rassenforscherin“ Eva Justin für ihre „Rassenforschung“ untersucht. Mit ihren Arbeiten trug sie zur massenhaften Deportation und Ermordung von Sinti und Sintizze sowie Roma und Romnja bei. Otto Rosenberg wurde im April 1943 mit seiner Familie in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Als einer der wenigen in seiner Familie überlebte er den Genozid. Für dessen Anerkennung setzte er sich später im Berlin-Brandenburger Landesverband Deutscher Sinti und Roma ein.

Ilse Weber wurde 1942 in das KZ Theresienstadt deportiert, wo sie die Kinder in der dortigen Kinderkrankenstube betreute. Im Oktober 1944 wurden alle Kinder nach Auschwitz deportiert und Ilse Weber begleitete sie freiwillig. Ein Bekannter von ihr, der schon in Auschwitz war, berichtete, dass alle sofort nach Ankunft vergast wurden. Ilse Weber ging mit den Kindern singend in den Tod. 

In der Ihnestraße 22 und auf dem angrenzenden Gelände wird im Sommer dieses Jahres die Dauerausstellung „Erinnerungsort Ihnestraße. Wissenschaft und Unrecht“ eröffnet, die die Geschichte des Ortes sichtbar macht und erklärt.