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Gib ein Rätsel auf oder stirb: in der Schreibwerkstatt mit Felicitas Hoppe

Die mit dem Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung ausgezeichnete Schriftstellerin unterrichtet als Gastprofessorin in diesem Semester literarisches Schreiben

18.07.2024

Gastprofessorin Felicitas Hoppe (zehnte von links) und ihre Studierenden

Gastprofessorin Felicitas Hoppe (zehnte von links) und ihre Studierenden
Bildquelle: Sören Maahs

„Sie haben jetzt 15 Minuten Zeit – sonst geht es Ihnen an den Kragen.“ Felicitas Hoppes unverwechselbare Stimme, hell und bestimmt, heiter und ernst, erfüllt den Seminarraum in der „Rostlaube“. Gerade hat sie die Kursteilnehmer aufgefordert, einen Gegenstand zu beschreiben, ohne ihn preiszugeben. Oder anders gesagt, ein Rätsel zu entwerfen. 

Die literarische Werkstatt ist fester Bestandteil der am Peter Szondi-Institut angesiedelten Gastprofessur für deutschsprachige Poetik und bietet jährlich etwa 15 Studierenden, ausgewählt von der Autorin oder dem Autor selbst, die Gelegenheit, eigene Texte zu besprechen. 

Felicitas Hoppe, die 1995 mit dem Erzählungsband „Picknick der Friseure“ als Schriftstellerin schlagartig bekannt wurde und 2012 den Büchner-Preis erhielt – den renommiertesten Literaturpreis im deutschen Sprachraum –, erklärt, sie habe möglichst verschiedene Texte ins Seminar genommen, „damit man von allem etwas hat“. Ein Text sei ihr etwa durch seine Karl-May-Haftigkeit aufgefallen. „Das fand ich toll, weil man das klassischerweise der Trivialliteratur zuordnen würde.“ 

Rate und rette deinen Hals

Die Autorin selbst ist eine leidenschaftliche Märchenleserin. In der Aufgabe zum Verrätseln zeigt sich ihre Liebe zu Geschichten von Königen, Rittern und Heiligen. Halslöserätsel heißen die Rätsel, bei denen es ums Leben geht. Sie existieren in zwei Varianten: Bei der einen examiniert ein mehr oder weniger grausames Wesen – man denke an die thebanische Sphinx, es kann aber auch ein Richter oder eine Königstochter sein – nach der Devise: rate oder stirb! Kann der Befragte das Rätsel nicht lösen, ist sein Leben verwirkt. Bei der anderen Variante ersinnt ein zum Tode Verurteilter ein Rätsel, das, wenn es nicht gelöst wird, seinen Hals rettet: Gib ein Rätsel auf und lebe! 

„Ich reise um die ganze Welt, bleibe aber immer in meiner Scheißecke.“ So verrätselt Literaturstudent Francesco das kleine, bunt bedruckte, an den Rändern gezähnte Papierviereck, das nur klebt, wenn die gummierte Rückseite befeuchtet wird. Auch bei Noëlle wechseln Begriffe ihre Bedeutungen, weil der Zusammenhang unklar ist: „In Hollywood-Rom-Coms der frühen 2000er sah man sie häufig verschwinden. Ihr eigentlicher Zweck ist medizinischer Natur, nur nicht medizinisch genug. Eigentlich macht sie durchschnittlich. Wenn man sie nicht sieht, sieht man am besten.“

Was die Studierenden nach Ablauf der Galgenfrist abliefern, macht Spaß und nährt den Spieltrieb. Und heizt den sportiven Wettstreit um das beste Rätsel an. Felicitas Hoppe ist begeistert. Nicht umsonst sind Sports- und Kampfgeist in ihrem Werk ein wiederkehrendes Thema: In ihren Romanen wird nicht nur gewürfelt und gewettet, sondern um die Wette gerannt, geschwommen, gereist und Eishockey gespielt. 

Ob im Pausenplausch oder beim Nachdenken über Kreativität, Felicitas Hoppe schüttelt spontan druckreife Antworten aus dem Ärmel.

Ob im Pausenplausch oder beim Nachdenken über Kreativität, Felicitas Hoppe schüttelt spontan druckreife Antworten aus dem Ärmel.
Bildquelle: Sören Maahs

Das Rätsel von Amerikanistik-Student Max schlägt einen kindertauglichen Ton an: „Mit gutem Riecher greif ich nach der Welt, und meine Welt, die sehe ich von oben. Was gestern war, das weiß ich wahrlich gut, das Sprichwort lässt hier keine Fragen offen. Man zwingt mich ins Rampenlicht, doch ich, ich lasse den Clowns und Tänzern gern den Vortritt. Wenn ich denn spreche, mache ich Musik. Und nichts ist schöner, als mich selbst zu baden mit jenem Riecher, der es mir gewährt, mit großem Herzen nach der Welt zu greifen.“ 

Die Studierenden lieben das Ratespiel – und schätzen den Arbeitsauftrag mit Zeitdruck. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, berichtet Hoppe nach der Sitzung, fühlen sich befreit, wenn sie einen festen Zeitrahmen haben, weil sie dann nicht anfangen, sich zu vergrübeln. „Eine Frist, wirklich einen Text liefern zu müssen, ist der Arbeit weit förderlicher, als uns vielleicht lieb ist.“

Wunsch nach der eigenen Stimme

Die Besprechung der eingereichten Texte steht an diesem Juninachmittag nicht auf dem Programm. Stattdessen werden Hausaufgaben verglichen. Aufgabe für die heutige Sitzung war es, auf einer halben Seite die Frage „Was ist Stil?“ zu beantworten. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben verschiedenste Lösungen gefunden. Manche der kleinen Texte über Stil sind natürlich selbst Stilübungen. Über einen Beitrag, der formvollendet den Sound professoraler Unfehlbarkeit nachbildet, bemerkt Hoppe knapp: „Kühn!“ 

Warum stellt Felicitas Hoppe überhaupt so eine, wie sie selbst meint, unverschämte Frage? „Mich beschäftigt das: Wer bestimmt, was guter Stil ist? Wessen ästhetische Kategorien liegen der Beurteilung zugrunde“, sagt Hoppe in der literarischen Werkstatt. „Man hat es beim Stil immer auch mit Formen von Normierung zu tun. Offensichtlich sind wir in dieser Vorstellung verhaftet – ich weiß nicht, wie es Ihnen geht –, was wir schreiben, sollte als das Unsrige erkennbar sein. Der Wunsch nach einem Individualstil ist irgendwie da.“ 

Auch wenn Hoppe in ihrer Schreibwerkstatt keine Regeln vorgibt – die Zeiten normativer Poetik sind schließlich vorbei –, ein paar praktische Ratschläge hält sie doch parat: „Machen Sie beim Schreiben, was Sie wollen, aber versuchen Sie besser nicht, sich vorzustellen, was im Kopf eines Lesers vorgeht, der später Ihren Text lesen könnte.“ Die Kraft, die man in den Versuch steckt, den Leser zu erreichen, ziehe man letztlich dem Text ab. 

Für die Statistik: 10 von 14 Teilnehmern schreiben auf dem Laptop, 3 mit Stift auf Papier und einer ins Handy.

Für die Statistik: 10 von 14 Teilnehmern schreiben auf dem Laptop, 3 mit Stift auf Papier und einer ins Handy.
Bildquelle: Sören Maahs

Gleichwohl hat sie die Effekte von gelesener Literatur sehr genau im Blick, oder besser gesagt im Ohr. Denn als eine Studentin liest, „Stil ist die Art, wie meine Stimme klingt“, bringt das auch etwas in der Autorin zum Klingen: „Die Frage nach der Stimme und dem Klang ist eine, die mich unglaublich beschäftigt“, sagt Felicitas Hoppe. „Deswegen bitte ich Sie auch, immer die Texte laut zu lesen, weil ich das wirklich hilfreich finde.“ Es sei kein Zufall, dass man vom „Ton eines Autors“ spricht: „Nichts ist ehrenvoller, als wenn jemand sagt: Sie haben eine eigene Stimme.“Denn die eigene Stimme sei vielleicht mehr als ein Stil, in dem sich immer nur wiederkehrende menschliche Grundthemen variieren lassen. 

Präsenz mit Haut und Haar

Als eine Kursteilnehmerin, die gleich einen fantastischen Text lesen wird, ihn durch wortreiche Anmoderation im Voraus herabsetzt, sagt die Autorin: „Ich glaube, Sie tun sich keinen Gefallen, wenn Sie ihre Texte vorab bewerten oder klassifizieren. Sparen Sie sich das, weil Ihre Texte alle interessant sind. Und es ist noch spannender, wenn wir nicht wissen, was Sie selbst darüber denken.“

Sich im Vorlauf vor Kritik zu schützen, sich klein zu machen, das findet Hoppe sehr verständlich. „Es schadet aber nicht, wenn man sich diese Entschuldigungsgesten abgewöhnt“, wird sie später in der Pause sagen. „Es ist gut, wenn man das Gefühl hat, dass man was zu bieten hat.“ Und fügt lachend hinzu: „Selbst wenn man nichts zu bieten hat, sollte man wenigstens so tun.“

Handreichungen dieser Art bleiben in der vierstündigen Session aber die Ausnahme. Felicitas Hoppe sieht ihre Aufgabe vielmehr darin, die Studierenden darauf aufmerksam zu machen, wie sie argumentieren, besonders wenn sie ihre Argumentation nicht gut begründen. „Es ist oft so, dass sie sagen ‚Der Text hat mich berührt‘. Ich frage dann: ‚Können Sie erklären, wie diese Wirkung zustande kommt?‘“

Hoppe besticht durch große Zugewandtheit und Geistesgegenwart. Meistens lässt sie das Gespräch der Studierenden laufen, stoppt durch gezieltes Nachfragen an bestimmten Stellen aber ab, lenkt um, segmentiert: „Wie gerät man in die Stilfalle?“, „Was heißt es denn, dass die Lebendigkeit flöten geht?“, „Können wir unseren Stil wirklich wählen?“

Oder ganz konkret: Studentin Lilli erinnert sich in ihrem Text an ihre ersten Schreibversuche, als sie nachahmte, was ihr gefiel. Heute erkennt sie in diesen frühen Übungen einen schwulstigen Stil und zugleich den authentischen Ausdruck einer zurückliegenden Lebensphase. Spontan nimmt Felicitas Hoppe den Schwulst als Stichwort auf: „Schreiben Sie doch bitte bis zum nächsten Mal auf einer halben Seite, was Kitsch ist.“