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„Behandelt Eure Gegenüber als Menschen. Seid Menschen.“

Vor 80 Jahren wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreit – auch an der Freien Universität Berlin wurde der Opfer gedacht, wie in den vergangenen Jahren vor der Ihnestraße 22

28.01.2025

In Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus legten Politikprofessor Bernd Ladwig und Universitätspräsident Günter M. Ziegler (r.) am 27. Januar 2025 einen Kranz vor dem Eingang Ihnestraße 22 nieder.

In Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus legten Politikprofessor Bernd Ladwig und Universitätspräsident Günter M. Ziegler (r.) am 27. Januar 2025 einen Kranz vor dem Eingang Ihnestraße 22 nieder.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Bei einer Mahnwache an der Freien Universität Berlin wurde auch an jene Opfer erinnert, die in Verbindung mit der Ihnestraße 22 standen, dem ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A). In dem Institut, das bis 1945 bestand, hatten Mitarbeitende im Namen der Wissenschaft rassistische und entmenschlichende Forschung betrieben. 1948 wurde die Freie Universität Berlin gegründet, in dem Gebäude Ihnestraße 22 sind heute Teile des Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft untergebracht. Im Oktober vergangenen Jahres wurde dort die Ausstellung „Erinnerungsort Ihnestraße“ eröffnet, die die Geschichte des Hauses und seiner Umgebung erforscht und dokumentiert.

Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. h.c. Günter M. Ziegler verlas einen Brief von Margot Friedländer. Die Holocaust-Überlebende hatte mehrfach in Veranstaltungen mit Studierenden gesprochen. 2022 wurde sie mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.

Universitätspräsident Prof. Dr. Dr. h.c. Günter M. Ziegler verlas einen Brief von Margot Friedländer. Die Holocaust-Überlebende hatte mehrfach in Veranstaltungen mit Studierenden gesprochen. 2022 wurde sie mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Universitätspräsident Ziegler verlas bei der Gedenkveranstaltung am 27. Januar 2025 einen Brief der Holocaust-Überlebenden Margot Friedländer. Die heute 103-Jährige ist seit Mai 2022 Ehrendoktorin der Freien Universität Berlin.

Dr.h.c. Margot Friedländer schreibt:

Liebe Gemeinschaft an der Freien Universität,

Ihr habt mich 2022 für meine Erinnerungsarbeit mit einem Ehrendoktor-Titel ausgezeichnet. Das freut und ehrt mich immer noch. Es bekräftigt aber auch die Verantwortung und Verpflichtung, meine Arbeit weiterzuführen. An der Universität passiert das in der Lehre, aber auch mit Ausstellungen und Kongressen: Auch die jungen Menschen, die an der Freien Universität lernen, müssen Zweitzeugen werden, um dann berichten zu können, wenn ich nicht mehr da bin.

Heute vor 80 Jahren, am 27. Januar 1945, sind die Konzentrationslager in Auschwitz befreit worden – das wusste ich damals noch nicht, denn ich war im KZ Theresienstadt interniert. Wir erfuhren erst kurz vor unserer Befreiung im Mai 1945 von den Verbrechen, von dem Grauen in Ausschwitz. Mein Vater, meine Mutter und mein Bruder wurden in Auschwitz ermordet.

Heute wissen wir, was Menschen anderen Menschen antun können, von den unvergleichlichen Verbrechen in Auschwitz und in den anderen Konzentrationslagern so auch in Theresienstadt.

In Zeiten wie heute, wo so viel Blut fließt und Gewalt wütet, müsst Ihr die Menschlichkeit bewahren. Betrachtet alle Eure Gegenüber als Menschen. Das Fürchterlichste wird erst möglich, wenn man die Menschen gegenüber entmenschlicht. Aber alle Menschen sind gleich, Blut ist Blut, es gibt kein jüdisches oder christliches oder moslemisches Blut. Deshalb gilt weiter, was ich immer wieder sage, auch für Euch: Behandelt Eure Gegenüber als Menschen. Seid Menschen.
Dr. Sara Han erinnerte an den Judaisten und Historiker Ernst Ludwig Ehrlich.

Dr. Sara Han erinnerte an den Judaisten und Historiker Ernst Ludwig Ehrlich.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Menschen, die aus eigenem Erleben von den Verbrechen im Nationalsozialismus berichten können, Opfer des Holocaust, gibt es, 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, immer weniger. Wenn diese Zeitzeugen sterben, braucht es Zweitzeugen. Menschen, die an die Bedrohten, Verfolgten, Ermordeten erinnern, die ihre Namen nennen. Das taten an diesem Wintermittag Studierende und Forschende der Freien Universität Berlin.

Sie nannten Salmen Gradowski, einen polnischen Juden, der 1942 nach Auschwitz deportiert wurde, dort ein Tagebuch auf Jiddisch schrieb, das er in der Nähe der Krematorien vergrub. Weil es nach dem Krieg gefunden wurde, konnte an diesem Montagmittag, 81 Jahre nach seinem Tod, daraus vorgelesen werden.

Sie erinnerten an Ceija Stojka, 1933 in der Steiermark, Österreich, geboren und 2013 in Wien gestorben. Sie war eine Lovara-Romni und überlebte drei Konzentrationslager: Auschwitz-Birkenau, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Aus ihrer erweiterten Familie von etwa 200 Personen haben außer ihr nur fünf Menschen überlebt. Ceija Stojka war nach dem Krieg Markthändlerin, Künstlerin und Autorin. Ihr Gedicht „Ich Ceija sage Auschwitz lebt“ wurde vor der Ihnestraße 22 vorgelesen.

Die Historikerin Dr. Manuela Bauche hat die Ausstellung „Erinnerungsort Ihnestraße“ kuratiert. Bei der Gedenkveranstaltung erinnerte sie an die Schwestern Luzie und Cäcilie Borinski.

Die Historikerin Dr. Manuela Bauche hat die Ausstellung „Erinnerungsort Ihnestraße“ kuratiert. Bei der Gedenkveranstaltung erinnerte sie an die Schwestern Luzie und Cäcilie Borinski.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

An die Schwestern Luzie und Cäcilie Borinski erinnerte die Historikerin Manuela Bauche, Kuratorin der Ausstellung „Erinnerungsort Ihnestraße“: Ihre Geschichte ist mit der Ihnestraße 22 verbunden. Weil sie asiatischer Herkunft waren (die Mutter Deutsche, der Vater kam von den Philippinen), wurden die beiden Frauen gegen ihren Willen sterilisiert. Entschieden hatte das neben anderen ein anthropologischer Gutachter, der bei Eugen Fischer, dem Direktor des KWI-A in der Ihnestraße, promoviert hatte. Weil sie selber keine Kinder bekommen konnten, hatten Luzie und Cäcilie Borinski engen Kontakt zu ihren Neffen und Nichten. Sie hatten lebenslang Angst davor, zum Arzt zu gehen.

Baruch Graubard (1900 bis 1976) konnte mit seiner Familie aus einem Lager fliehen und sich in einem slowakischen Franziskanerkloster verstecken. Die Familie überlebte, aber: „Meine Tochter blieb in den Fängen des Todes zehn Jahre lang hängen, bis sie nicht mehr konnte“, schrieb Baruch Graubard 1955, seine Tochter hatte sich gerade umgebracht.

Sara Han, Postdoktorandin im von Theologieprofessor Rainer Kampling geleiteten BMBF-Verbundprojekt „Christliche Signaturen des zeitgenössischen Antisemitismus“, erinnerte an Ernst Ludwig Ehrlich, Judaist und Historiker, 1943 vor den Nationalsozialisten in die Schweiz geflohen, in Basel promoviert, 1958/59 Gastdozent an der Freien Universität Berlin. 2002 verlieh ihm die Freie Universität die Ehrendoktorwürde. Ernst Ludwig Ehrlichs Witwe schenkte seine 8400 Bände umfassende Bibliothek im Jahr 2008 der Freien Universität Berlin, sie steht in der Campusbibliothek.

Das Gedenken fand auf dem Gelände des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik statt. Heute wird das Gebäude Ihnestraße 22 vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft genutzt.

Das Gedenken fand auf dem Gelände des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik statt. Heute wird das Gebäude Ihnestraße 22 vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft genutzt.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Auf der anderen Seite, der Seite der Täter, steht der Name Hermann Muckermann. Der Theologe und Eugeniker war von 1927 bis 1933 die Abteilungsleilter am KWI-A und folgte auch nach seiner Entlassung den rassistischen Ideologien des Nationalsozialismus. Nach dem Krieg baute er ein neues „Institut für Anthropologie“ auf, das in der Direktorenvilla des KWI-A untergebracht war auf dem heutigen Campus der Freien Universität Berlin, und das er bis zu seinem Tod 1962 leitete. Seit 1950 lehrte Muckermann als Honorarprofessor für Angewandte Anthropologie auch an der Freien Universität Berlin.

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie

Bernd Ladwig ist Professor für politische Theorie und Philosophie
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„Soll das Gedenken nicht zur Routine werden, müssen wir konkret werden, fragen: Was hat das mit uns zu tun?“, sagte Bernd Ladwig. Der Politikwissenschaftler sprach für die Professor*innenschaft des Otto-Suhr-Instituts. „Wenn jüdische Studierende Angst haben auf unserem Campus, muss uns das beschämen“, sagte Ladwig. „Nie wieder ist jetzt.“

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