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Auf Spurensuche in Berlin

Ausstellungeröffnung „Berlin Transit“ im Jüdischen Museum am 22. März – eine Kooperation des Osteuropa-Instituts der Freien Universität und des Jüdischen Museums

21.03.2012

Ansicht einer Großfamilie: Sina Kahan mit ihren Kindern Gita und Juda-Leibl bei der Sommerfrische in Bad Kreuznach, 1911

Ansicht einer Großfamilie: Sina Kahan mit ihren Kindern Gita und Juda-Leibl bei der Sommerfrische in Bad Kreuznach, 1911
Bildquelle: Privat

Ausschnitt aus "Max Liebermann eröffnet eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste" von Leonid O. Pasternak, Berlin, 1930, Öl auf Leinwand

Ausschnitt aus "Max Liebermann eröffnet eine Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste" von Leonid O. Pasternak, Berlin, 1930, Öl auf Leinwand
Bildquelle: Jüdisches Museum

»Kein Spielplatz« - Großstadtkinder im Berliner Scheunenviertel,1929

»Kein Spielplatz« - Großstadtkinder im Berliner Scheunenviertel,1929
Bildquelle: Ernst Thormann

Ein halbes Jahr lang war Vera Jewsejewna Slonim auf der Flucht, bis sie schließlich 1923 über zahlreiche Umwege Berlin erreichte. Die spätere Ehefrau des Schriftstellers Vladimir Nabokovs musste – wie viele Hunderttausend osteuropäische Juden – nach der Russischen Revolution und vor den gegen Juden verübten Pogromen 1919 aus ihrer Heimat fliehen. Die recherchierten Fluchtwege bilden mit vielen anderen Forschungsergebnissen des am Osteuropa-Institut der Freien Universität angesiedelten Projekts "Charlottengrad und Scheunenviertel" die wissenschaftliche Grundlage der Ausstellung „Berlin Transit“. Sie ist vom 23. März an im Jüdischen Museum zu sehen.

Anne-Christin Saß hat das Ausstellungsprojekt vonseiten der Freien Universität koordiniert. Die Historikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich von Professorin Gertrud Pickhan am Osteuropa-Institut arbeitet seit anderthalb Jahren an der Schnittstelle zwischen Museum und Freier Universität: in einem Büro im Jüdischen Museum. Als „work in progress“ beschreibt sie das Ausstellungsprojekt, das in enger Zusammenarbeit von sechs Mitarbeiterinnen des Jüdischen Museums und drei Wissenschaftlerinnen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität entstanden ist. Gezeigt wird in sechs thematisch eingerichteten Räumen und einem als Epilog bezeichneten Raum, woher die Migranten kamen, wie sie in Berlin lebten, welche Impulse sie hier erhielten und welche Spuren sie hinterließen.

Der lange Weg nach Berlin

„Nach Berlin“ ist der erste Raum programmatisch überschrieben. Hier dokumentiert eine als Landkarte gestaltete Wand fünf exemplarische Fluchtrouten – Irrwege, über die die Migranten etwa aus St. Petersburg, Kiew und Drohobytsch nach Berlin gelangten. „Für uns war es eine Premiere, mit Wissenschaftlern eines laufenden Projekts von der Konzeptphase bis zur Umsetzung so eng zu kooperieren“, sagt Leonore Maier, Kuratorin am Jüdischen Museum. Und eine „Luxussituation“: „Wir konnten in hohem Maße von der Material- und Quellenkenntnis und den Kontakten der Wissenschaftlerinnen profitieren.“

Flucht vor Gewalt und Not

Der Dokumentarfilm „Les pogroms juifs en Ukraine“ stammt aus dem Staatlichen Filmarchiv in Kiew und wird im Rahmen der Ausstellung „Berlin Transit“ erstmals einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Film, den Efim Melamed, Projektkoordinator für Judaica in der Ukraine, aufgetan hat, zeigt Originalaufnahmen von verwüsteten Straßen und verletzten und ermordeten Menschen: Opfer eines Pogroms vom Mai 1919 im ukrainischen Tscherkassy. Die Aufnahmen entstanden unmittelbar nach dem Pogrom zu Dokumentationszwecken und waren auch als Beweismittel für die internationale Öffentlichkeit gedacht. Der Film zeigt die brutale Gewalt, vor der die Migranten flohen. Drastische Szenen, die auch der russisch-jüdische Maler Issachar Ber Ryback in den Jahren zwischen 1918 und 1920 in einer eindrucksvollen Serie von neun Aquarellen über die Pogrome festgehalten hat, die erstmals seit 1924 wieder in Berlin zu sehen ist. Fünf seiner hier entstandenen avantgardistischen Gemälde werden in dem Raum „Blickwechsel“ ausgestellt. Hier belegen die Werke dreier damals in Berlin lebender osteuropäisch-jüdischer Künstler das ästhetische und politische Spektrum der zeitgenössischen Kunst. Geschaffen haben sie neben Ryback: Leonid Pasternak, der Vater des russischen Schriftstellers Boris Pasternak, und Naum Gabo.

Das Scheunenviertel

Das „Scheunenviertel“ nördlich des Alexanderplatzes galt im Berlin der Weimarer Republik als Elendsbezirk: Hier kamen die mittellosen osteuropäischen Juden zeitweilig unter. Dem weitgehend jüdisch-orthodoxen Milieu standen auch viele der besser gestellten in Berlin ansässigen Juden zwiespältig gegenüber. Bilder aus drei fotografischen Perspektiven zeigen die Fremd- und Eigenwahrnehmung der Zeitgenossen: Fotos von Razzien, die den Polizeiblick dokumentieren, fast ethnografisch ausgerichtete Aufnahmen von Berufs- und Amateurfotografen – etwa von Straßenszenen – sowie private Blicke in Familienalben. „Es ging uns nicht darum zu zeigen, wie das Leben im Scheunenviertel wirklich war“, sagt Anne-Christine Saß, „sondern wie es wahrgenommen und für propagandistische Darstellungen genutzt wurde.“

Die Kahans - eine russisch-jüdische Familie im Berlin der 1920er Jahre

Stellvertretend für das russisch-jüdische Berlin, deren zumeist akkulturierte Vertreter rund um den Kurfürstendamm in Charlottenburg lebten, steht die russische Unternehmerfamilie Kahan. Ihr ist ein eigener Ausstellungsraum gewidmet: „Charlottengrad“. Den Kontakt zu Nachkommen des Familien- und Firmenpatriarchs Chaim Kahan, der schon im Russischen Reich mit einer international agierenden Ölfirma zu großem Wohlstand gelangt war, hatte Verena Dohrn, Koordinatorin des Forschungsprojekts „Charlottengrad und Scheunenviertel“ geknüpft. „Ein Beispiel dafür, wie unsere wissenschaftliche Arbeit die Grundlage für das Ausstellungskonzept geschaffen hat“, sagt Anne-Christin Saß. Und wie das Ausstellungsprojekt die Forschung vorantreibt: Für den Raum „Charlottengrad“ wurde in der weitverzweigten Familie, deren Mitglieder in Israel und den USA leben, nach Familienmemorabilia gesucht. Mit Erfolg: Gezeigt werden Schmuck, Porträts, Gebrauchsgegenstände und Souvenirs sowie Urkunden und Fotografien.

Lesen, anschauen, anhören

Die rege Verlagstätigkeit zahlreicher Migranten in Berlin erlebte zwischen 1921 und 1924 ihre Blütezeit. Die radikale Geldentwertung, die Deutschland zwischen 1914 und 1923 erlebte, war hierfür ein Grund: Mit geringen Kosten konnten hochwertige Bücher produziert werden. Davon zeugt der Ausstellungsraum „Babylon“: Neunzig russische Verlage, an denen osteuropäisch-jüdische Migranten beteiligt waren, und mehr als 50 jiddische Verlage gab es Anfang der 1920er Jahre in Berlin. Der Raum „Migrantenstimmen“ macht die Sprachenvielfalt und die Erfahrungen der Zuwanderer hörbar: An Audiostationen können Besucher zeitgenössische Texte nicht nur in den Ausstellungssprachen Deutsch und Englisch anhören, sondern auch in den Originalsprachen Jiddisch, Russisch und Hebräisch.

Was bleibt

Am Ende der Ausstellung werden die Besucher zur Spurensuche in Berliner Straßen und Bezirken ermuntert. Viel sei leider nicht mehr zu finden, was auf die Migranten hinweise, sagt Anne-Christin Saß: „In Berlin wird ja immer alles überbaut.“ Auch in der Charlottenburger Schlüterstraße 36 erinnert nichts daran, dass die Neun-Zimmer-Wohnung im Hochparterre zwischen 1915 und 1933 der Mittelpunkt der Familie Kahan war. Dennoch – die Geschichte schreibt sich fort: Vierzig Nachkommen der Kahans haben sich zur Eröffnung der Ausstellung „Berlin Transit“ am 22. März angekündigt.

Weitere Informationen

Ausstellung

Die Ausstellung wird am 22. März um 19 Uhr eröffnet und ist vom 23. März bis 15. Juli 2012 im Jüdischen Museum zu sehen, Lindenstraße 9-14, 10969 Berlin, Altbau, 1. OG. Geöffnet ist sie täglich von 10 bis 20 Uhr, montags 10 bis 22 Uhr. Der Eintritt kostet 4, ermäßigt 2 Euro oder als Kombiticket (Dauerausstellung & Sonderausstellung): 7, ermäßigt. 3,50 Euro

Im Internet

www.jmberlin.de/berlin-transit/uebersicht.php

Das Forschungsprojekt "Charlottengrad und Scheunenviertel" im Internet

http://oei.fu-berlin.de/projekte/charlottengrad-scheunenviertel/index.html

Begleitend zur Ausstellung findet am 24. März ein Symposium statt, in dem einzelne Ausstellungsthemen vertieft werden. Das Programm findet sich unter www.jmberlin.de