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„Vielleicht hätte ich gesagt: Das ist Vergangenheit – und tschüß!“

Ohad und Noaam Gavrieli besichtigen im Jüdischen Museum die Ausstellung „Berlin Transit“ – und treffen auf ihre Familie

30.03.2012

Den Kahans verwandschaftlich verbunden: Noaam (l.) und sein Bruder Ohad (r.) sind Ur-Ur-Ur-Enkel der Ahnin Malka Chaim. Sie war nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrem Ehemann Chaim Kahan aus dem aserbaidschanischen Baku nach Berlin gekommen.

Den Kahans verwandschaftlich verbunden: Noaam (l.) und sein Bruder Ohad (r.) sind Ur-Ur-Ur-Enkel der Ahnin Malka Chaim. Sie war nach dem Ersten Weltkrieg mit ihrem Ehemann Chaim Kahan aus dem aserbaidschanischen Baku nach Berlin gekommen.
Bildquelle: Melanie Hansen

Familienbild: Vor den Porträts ihrer Urahnen haben sich 49 Angehörige der Familie Kahan versammelt. Sie leben in Israel, Kanada und den USA.

Familienbild: Vor den Porträts ihrer Urahnen haben sich 49 Angehörige der Familie Kahan versammelt. Sie leben in Israel, Kanada und den USA.
Bildquelle: Melanie Hansen

Spurensuche: Der 84-jährige Eli Rosenberg, Großonkel von Noaam und Ohad. Rosenberg lebt heute in Tel Aviv. Der promovierte Geologe und Urenkel von Malka und Chaim Kahan hat die ersten vier Lebensjahre in Berlin verbracht.

Spurensuche: Der 84-jährige Eli Rosenberg, Großonkel von Noaam und Ohad. Rosenberg lebt heute in Tel Aviv. Der promovierte Geologe und Urenkel von Malka und Chaim Kahan hat die ersten vier Lebensjahre in Berlin verbracht.
Bildquelle: Melanie Hansen

Noaam Gavrieli kennt Berlin, Ohad ist zum ersten Mal hier. Die Brüder sind zur Eröffnung von „Berlin Transit“ aus Jerusalem und Vancouver ins Jüdische Museum gekommen. Die Ausstellung dokumentiert „die Lebenswelten osteuropäisch-jüdischer Migranten in den 1920er Jahren in Berlin“ und beruht auf einem Forschungsprojekt von Wissenschaftlerinnen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität. Ein Raum ist der Familie Kahan gewidmet – den Vorfahren der Gavrieli-Brüder, die in den Zwanzigerjahren in Charlottenburg lebten. Die Ausstellungseröffnung war der Anlass für ein Großfamilientreffen.

Ohad Gavrieli lebt im kanadischen Vancouver. Er ist 27 Jahre alt und arbeitet für die Jewish Agency. Sein Bruder Noaam, 30, studiert in Jerusalem Soziologie. Beide haben auch die deutsche Staatsbürgerschaft. „Wir sind über unsere Großmutter mit den Kahans verwandt“, sagt Ohad. „Sie hieß Malka nach ihrer Urgroßmutter, die mit Chaim Kahan verheiratet war.“ Malka und Chaim Kahan waren vor dem Ersten Weltkrieg aus Aserbaidschan nach Berlin gekommen. Chaim Kahan, ein Ölmagnat aus Baku, hatte zunächst seine Söhne nach Deutschland geschickt. Von Berlin aus sollten sie die in der Heimat gegründete, expandierende Ölgesellschaft ausbauen.

Die Kahans: zu Hause in Charlottengrad

In Berlin lebte der Kahan-Clan in Charlottenburg. Wegen der vielen russisch-jüdischen Migranten, die in den Zwanziger- und frühen Dreißigerjahren hier ein meist vorübergehendes Zuhause gefunden hatten, wurde das Viertel um den Kurfürstendamm auch Charlottengrad genannt. In der Schlüterstraße 36 führten die Kahans ein offenes Haus, das Mittelpunkt war für die Familie, jüdische Migranten, Künstler und Hilfesuchende. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs konnte die Familie aus Deutschland emigrieren, nach Israel und in die USA, einige Familienmitglieder hatten Berlin schon frühzeitig wieder verlassen.

Fast 50 Nachfahren der Kahans kamen ins Jüdische Museum

Zur Ausstellungseröffnung „Berlin Transit“ in der vergangenen Woche sind fast 50 Nachfahren der Kahans ins Jüdische Museum gekommen: aus Israel, den USA und Kanada. Manche begegneten einander zum ersten Mal. Viele Geschichten haben Noaam und Ohad über ihre große Familie und deren Berliner Zeit gehört. Einige Stücke, die in der Ausstellung jetzt zu sehen sind, erkennen sie wieder: „Die Kerzenleuchter stehen sonst bei uns zu Hause“, sagt Noaam, „und die Firmenplakette der Ölgesellschaft NITAG hängt im Arbeitszimmer meines Vaters.“ Die Familien-Memorabilia – Briefe, Alltagsgegenstände, Geschirr, Besteck, Accessoires – zeugen vom Wohlstand der Familie, die am Berliner Kultur- und Gesellschaftsleben in den Zwanzigerjahren teilhatte.

Erinnerung dokumentieren und bewahren

Dass Wissenschaftlerinnen des Osteuropa-Instituts der Freien Universität um Professorin Gertrud Pickhan im Rahmen des Forschungsprojekts „Charlottengrad und Scheunenviertel“ die Familiengeschichte der Kahans rekonstruiert und aufgeschrieben haben, freut Noaam und Ohad. Sie hoffen, dass die Bücher, die im Rahmen des Forschungsprojekts entstanden sind, auch ins Englische und Hebräische übersetzt werden: „Vieles, was hier gezeigt wird, stammt aus dem Erbe unserer Großmutter. Die Briefe sind auf Jiddisch oder Althebräisch geschrieben, was von uns keiner lesen kann. Es ist toll, dass sich jemand darum kümmert.“ Mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Familiengeschichte sei ihnen auch eine wichtige Entscheidung abgenommen worden: „Wenn mir die Briefe nach dem Tod meiner Eltern in die Hände gefallen wären – ich weiß nicht, was ich gemacht hätte“, gesteht Noaam, „vielleicht hätte ich sie einfach weggeworfen und gesagt: Das ist Vergangenheit – und tschüß!“

Weitere Informationen

„Berlin Transit"

Die Ausstellung „Berlin Transit“ ist bis zum 15. Juli im Jüdischen Museum, Lindenstraße 9–14, 10969 Berlin, zu sehen. Gezeigt wird in sechs thematisch eingerichteten Räumen und einem als Epilog bezeichneten Raum, woher die Migranten kamen, wie sie in Berlin lebten, welche Impulse sie hier erhielten und welche Spuren sie hinterließen.

Im Internet

www.jmberlin.de

Forschungsprojekt "Charlottengrad und Scheunenviertel"

www.oei.fu-berlin.de/projekte/charlottengrad-scheunenviertel/index.html