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„Hass ist ein großer Vereinfacher“

24. bis 26. Mai: „Hass/Literatur“– Internationale Tagung am Sonderforschungsbereich „Affective Societies“ / Interview mit dem Literaturwissenschaftler Jürgen Brokoff

22.05.2018

Hassliteratur und Hassgesänge dienten in Krisen- und Kriegssituationen der Feindbildproduktion und der Emotionalisierung der eigenen Anhängerschaft, sagt Literaturprofessor Jürgen Brokoff.

Hassliteratur und Hassgesänge dienten in Krisen- und Kriegssituationen der Feindbildproduktion und der Emotionalisierung der eigenen Anhängerschaft, sagt Literaturprofessor Jürgen Brokoff.
Bildquelle: istockphoto / devonyu

Anonyme Shitstorms im Internet, öffentliche Hassreden bei Demonstrationen und ein amerikanischer Präsident, der seine Kritiker via Twitter niedermacht. Ob als gesprochenes Wort oder in Schriftform – Hass fand zu allen Zeiten seinen Ausdruck. Nur die mediale Form unterliegt dem ständigen Wandel. Hass strebt die Vernichtung des Gehassten an. Weil er jedes Maß vermissen lässt, sind seine Nachweise in Texten und Reden wie bei kaum einem anderen Affekt geeignet, emotionale Ausnahmezustände anschaulich zu machen. Im Rahmen des SFB 1171 „Affective Societies“, in dem Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Freien Universität aus den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften die fundamentale Bedeutung von Emotionalität und Affektivität für das soziale Zusammenleben in der vernetzten Welt des 21. Jahrhunderts erforschen, findet nun eine Tagung statt: „Hass/Literatur“. Im Vorfeld sprach Campus.leben mit dem Literaturwissenschaftler Professor Jürgen Brokoff, einem der Organisatoren der Tagung, der sich mit den Formen der verletzenden Rede beschäftigt.

Kain erschlägt Abel: Die Bibelszene - ein Beispiel für Hass in der Literatur - ist ein Ausschnitt aus dem von dem flämischen Maler Jan van Eyck (1390-1441) geschaffenen Altar in der St.-Bavo-Kathedrale im belgischen Gent.

Kain erschlägt Abel: Die Bibelszene - ein Beispiel für Hass in der Literatur - ist ein Ausschnitt aus dem von dem flämischen Maler Jan van Eyck (1390-1441) geschaffenen Altar in der St.-Bavo-Kathedrale im belgischen Gent.
Bildquelle: Wikimedia commons

Herr Professor Brokoff, welche Schwerpunkte hat die am 24. Mai beginnende Tagung?

Wir wollen die Schnittstelle zwischen Hass und Literatur in einer gewissen historischen Tiefe beleuchten und schlagen eine Bogen vom Mittelalter und der Frühen Neuzeit – vom Nibelungenlied und Luthers Schriften – bis zu heutigen Formen der Artikulation von Hass. Die zentrale Frage lautet: Wie ist das Verhältnis von Hass und Literatur? Wird Hass thematisiert in der Literatur? Ist Literatur selbst Ausdruck von Hass? Oder stachelt Literatur zu Hass auf und befördert gewissermaßen Verhaltensweisen, Gewaltausbrüche? Dabei fassen wir den Begriff Literatur sehr weit, schließen auch moderne Textformen wie etwa Blogs, Social media und anderes mit ein.

Professor Dr. Jürgen Brokoff vom Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität hat die Tagung Hass/Literatur mitorganisiert.

Professor Dr. Jürgen Brokoff vom Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität hat die Tagung Hass/Literatur mitorganisiert.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

Welche Funktion hatte Hass in der älteren Literatur?

Hassliteratur diente in bestimmten Krisen- und Kriegssituationen der Feindbildproduktion und der Emotionalisierung der eigenen Anhängerschaft. Das sehen wir deutlich in diversen historisch-politischen Situationen. Zum Beispiel um 1800, zur Zeit der deutschen Klassik und Romantik: Heinrich von Kleist schrieb damals das wichtige Drama „Die Hermannsschlacht“, in der Hermann der Cherusker seine Stammesgenossen gegen die Römer aufwiegelt. Konkreter Hintergrund ist jedoch die Besatzung Preußens durch Napoleons Truppen nach der Niederlage von 1806.

Auch im Kontext des Ersten Weltkriegs spielt Hass in der Literatur eine große Rolle. Es gibt regelrechte Hassgesänge auf die Soldaten und Vertreter anderer Nationen. Exemplarisch sei hier das berüchtigte Gedicht von Ernst Lissauer genannt – „Hassgesang gegen England“. Im Nationalsozialismus fanden Fremdenhass und Antisemitismus besonders intensiv ihren Niederschlag in der Literatur.

Hasskommentare im Internet zu hinterlassen, ist einfach. Die Anonymität des Netzes schützt die Verfasser. Das kann zur Eskalation beitragen.

Hasskommentare im Internet zu hinterlassen, ist einfach. Die Anonymität des Netzes schützt die Verfasser. Das kann zur Eskalation beitragen.
Bildquelle: Marion Kuka

Warum ist Hass gerade heute ein so zentrales gesellschaftliches Thema?

Globalisierung, Klimawandel, Digitalisierung, Flüchtlingsproblematik – je komplexer die Zusammenhänge, umso reizvoller ist der Hassausdruck. Hass ist ein großer Vereinfacher. Zudem spielt in „postfaktischen Zeiten“ die Tatsächlichkeit der Dinge nicht mehr so eine Rolle. Die Hassformen haben zudem sehr stark mit dem medialen Wandel zu tun. Hasskommentare unter Artikeln im Internet haben für den Autor oder die Autorin den Vorteil, dass ihre „bürgerliche Existenz“ verschleiert bleibt. Die Einhegung von Kritik und Emotionen, die sonst von der Gesellschaft gefordert wird, kann man durch die Anonymität hinter sich lassen – ein Faktor, der zur Eskalation beiträgt.

Inwiefern kann die wissenschaftliche Beschäftigung mit Literatur hier hilfreich sein?

Im Rahmen des SFB „Affective Societies“ erforschen wir über Fächergrenzen hinweg Formen degradierender, entwürdigender und missachtender Rede – in öffentlichen Debatten, Kontroversen und Polemiken, oftmals auch solche mit Bezug auf religiöse Aspekte. Durch wissenschaftliche Analysen können wir keine gesellschaftlichen Veränderungen herbeiführen – aber ein Bewusstsein dafür schaffen, dass in politischen Diskursen immer auch affektive, emotionale Anteile enthalten sind. Nur wenn man weiß, über welche affektiven und emotionalen Kanäle eine wirkungsmächtige Kommunikation zustande kommen kann, lässt sich der Zerfall einer Gesellschaft in emotionale Blasen verhindern.

Die Fragen stellte Catarina Pietschmann

Weitere Informationen

Internationale Tagung Hass/Literatur

Zeit und Ort

  • 24. – 26. Mai 2018
  • Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, KL 32/2002, 14195 Berlin (U-Bhf. Freie Universität / Thielplatz, U 3)

Ansprechpartner

  • Prof. Dr. Jürgen Brokoff, Leiter der Arbeitsgruppe Neuere deutsche Literatur am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Tel. +49 30 838 554403, E-Mail: juergen.brokoff@fu-berlin.de
  • Dr. Robert Walter-Jochum, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB „Affective Societies“. Tel. +49 30 838 55415, E-Mail robert.walter@fu-berlin.de

Das Tagungsprogramm finden Sie hier.