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Gemeinsam Ungleichheit erforschen

Ein 2017 gegründetes Merian Forschungskolleg verbindet die europäische und lateinamerikanische Forschung zum Zusammenleben in ungleichen Gesellschaften / Eine Zwischenbilanz

13.08.2018

São Paulo ist das wichtigste Wirtschafts-, Finanz- und Kulturzentrum Brasiliens. Hier leben mehr als zwölf Millionen Menschen aus rund 100 verschiedenen Ethnien zusammen.

São Paulo ist das wichtigste Wirtschafts-, Finanz- und Kulturzentrum Brasiliens. Hier leben mehr als zwölf Millionen Menschen aus rund 100 verschiedenen Ethnien zusammen.
Bildquelle: ckturistando on Unsplash

Konferenzen in Berlin, Köln, Mexiko-Stadt und São Paulo, mehrere Diskussionspapiere, drei Postdoc-Stellen, etliche Skypesitzungen über sieben Zeitzonen hinweg – „Im ersten Jahr ist viel passiert“, sagt Nicolas Wasser. Der promovierte Soziologe ist wissenschaftlicher Koordinator des internationalen Merian Forschungskollegs. Im April vergangenen Jahres hat das Kolleg mit dem Titel Maria Sibylla Merian International Centre for Humanities and Social Sciences Conviviality in Unequal Societies: Perspectives from Latin America (Zusammenleben in ungleichen Gesellschaften: Perspektiven aus Lateinamerika), kurz Mecila, unter der Koordination der Freien Universität Berlin seine Arbeit aufgenommen.

Nicolas Wasser ist Alumnus des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin und wissenschaftlicher Koordinator des Mecilas.

Nicolas Wasser ist Alumnus des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin und wissenschaftlicher Koordinator des Mecilas.
Bildquelle: Marina Kosmalla

Das Mecila erforscht das Zusammenleben in Gesellschaften mit kultureller, religiöser, politischer, ökonomischer und ethnischer Ungleichheit – und wie diese in Gesellschaften in Lateinamerika und der Karibik vorkommen. Seit die ersten europäischen Kolonisatoren vor mehr als 500 Jahren dort die indigenen Bevölkerungen bezwungen haben – und später verstärkt durch den Sklavenhandel mit Afrika –, ist Lateinamerika geprägt durch ein komplexes Neben- und Miteinander von Differenzen. Zusammenleben in sozialer Ungleichheit sei aber auch ein sehr aktuelles Thema, da wir darauf zu steuerten, dass sich diese Ungleichheiten weiter ausweiteten, sagt Nicolas Wasser, – und das weltweit. „Auch in Europa stehen wir durch die Flüchtlingskrise und politische Veränderungen vor Konflikten, die viel mit Fragen des Zusammenlebens und sozialer Ungleichheit zu tun haben.”

Quer durch die Disziplinen und die Historie

Die heutige Situation sowie die Geschichte des Zusammenlebens in vielfältigen und ungleichen Gesellschaften wird im Forschungskolleg aus verschiedenen Perspektiven untersucht: Forschende aus den Bereichen Kultur- und Literaturwissenschaften sowie den Rechts- und Politikwissenschaften, der Anthropologie, Soziologie, Philosophie, Geschichte, Wirtschaft und den Geschlechterstudien sind an dem Projekt beteiligt. Sie beschäftigen sich beispielsweise mit den Fragen, wie Staaten mit Ungleichheit umgehen oder wie Schriftsteller und Künstler sich mit Themen des Zusammenlebens auseinandersetzen.

Sieben Institutionen arbeiten in dem internationalen Forschungskolleg zusammen. Die Koordination liegt bei der Freien Universität. Sprecher des Konsortiums ist Sérgio Costa, Professor für Soziologie am Lateinamerika-Institut. Zwei weitere Partner aus Deutschland sind die Universität zu Köln und das Ibero-Amerikanische Institut der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Dazu kommen vier Einrichtungen in Lateinamerika: die Universidade de São Paulo und das Centro Brasileiro de Análise e Planejamento in Brasilien, das Instituto de Investigaciones en Humanidades y Ciencias Sociales in Argentinien und das Colegio de México in Mexiko.

Zusammenarbeit auf Augenhöhe

Das Projekt kann vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für bis zu maximal zwölf Jahre gefördert werden. Insgesamt hat das BMBF seit 2016 vier Maria-Sibylla-Merian-Zentren gegründet – in Indien, Mexiko, Ghana und Brasilien. Eine Absichtserklärung zur Gründung eines weiteren Zentrums unter Beteiligung der Freien Universität Berlin ist Anfang des Monats im Bundeskanzleramt im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel und des chinesischen Premierministers Li Keqiang unterschrieben worden. Das Bundesministerium ist der Überzeugung, dass Themen, die global wichtig sind – gerade in den Sozial- und Geisteswissenschaften – auch in den betroffenen Regionen selbst untersucht werden sollten. Dadurch soll gleichzeitig die Zusammenarbeit auf Augenhöhe, also ein symmetrischer Austausch zwischen europäischen und lateinamerikanischen Forscherinnen und Forschern, gefördert werden.

In der Einrichtungsphase ist das Mecila beim Centro Brasileiro de Análise e Planejamento in São Paulo untergebracht, eine der zwei brasilianischen Partnerinstitutionen.

In der Einrichtungsphase ist das Mecila beim Centro Brasileiro de Análise e Planejamento in São Paulo untergebracht, eine der zwei brasilianischen Partnerinstitutionen.
Bildquelle: Marina Kosmalla

Das Merian Forschungskolleg zum Thema Zusammenleben wird in den ersten drei Jahren mit insgesamt 1,9 Millionen Euro gefördert. In dieser Einrichtungsphase konkretisiert sich das Forschungsprogramm. „Wir schaffen sozusagen den konkreten Raum, sowohl wissenschaftlich als auch administrativ, in dem das Zentrum dann in der Hauptphase arbeitet“, sagt Nicolas Wasser. Der erste Schritt war die Einrichtung des Koordinationsbüros in São Paulo, wo als Knotenpunkt alle Zweige des Projekts bei dem Alumnus des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität und seiner Kollegin Melanie Metzen zusammenlaufen.

„Die Zeitverschiebung ist das kleinste Problem“

Zwei Kontinente, drei Sprachen, sieben Institutionen – bei so einem großen Konsortium ist die Koordination eine große Herausforderung. Das beginne schon bei banalen Sachen wie der Zeitverschiebung, sagt Nicolas Wasser. „Der Kollege in Mexiko steht drei Stunden später auf als ich. Da hat die Wissenschaftlerin in Deutschland schon wieder Feierabend.“ Flexibilität werde auch bei der Sprache vorausgesetzt. Administrative Fragen bespricht der wissenschaftliche Koordinator mit den Ministerien auf Deutsch, die Kommunikation mit den lateinamerikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verläuft auf Spanisch oder Portugiesisch, auf Konferenzen wird dann eher ins Englische gewechselt.

Eine größere Herausforderung sei es aber, die unterschiedlichen Forschungsausrichtungen und -kulturen zusammenzubringen, sagt Wasser. „Daher ist ein regelmäßiger Informationsaustausch sehr wichtig.” Hilfreich sind dabei die Konferenzen, die das Mecila alle sechs Monate zu verschiedenen Themen an einer der beteiligten Institutionen veranstaltet. Die letzte fand im Juni in Köln unter dem Titel „Convivial (Hi)Stories. Envisioning 'Conviviality' in Colonial and Modern Latin America“ („Geschichte(n) des Zusammenlebens. Eine Skizze vom Zusammenleben im kolonialen und modernen Lateinamerika“) statt. Zusätzlich bietet jede Einrichtung eigene Workshops, Seminare oder Ringvorlesungen zum Themenspektrum der „Conviviality“ an. Diskussionspapiere, die im Rahmen dieser Veranstaltungen entstehen, werden auf der Webseite des Mecila veröffentlicht.

„Wir hoffen, weitermachen zu können“

Zunächst gehe es darum, den Forschungsstand der verschiedenen Disziplinen zum Thema des Zusammenlebens in ungleichen Gesellschaften aufzuarbeiten und die zentralen Fragestellungen des Forschungskollegs für die Hauptphase auszuformulieren, sagt Nicolas Wasser. An der Ausarbeitung des Forschungsprogramms sind 16 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler – die Principal Investigators (PI) – aller Partnerinstitutionen beteiligt. Im Koordinationsbüro in São Paulo unterstützen zudem drei Postdocs das Projekt.

Bei einer positiven Evaluation der ersten Projektphase durch das BMBF schließt sich zunächst eine sechs Jahre dauernde Förderphase an. „Ab diesem Zeitpunkt werden wir regelmäßig internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach São Paulo einladen, die hier für einen bestimmten Zeitraum zum Thema forschen können“, sagt Nicolas Wasser. Auch wird es in der Hauptphase eine eigene Doktorandenausbildung am Mecila geben. „Wir liegen gut in der Zeit mit unserem Plan für die Einrichtungsphase und hoffen natürlich, danach weitermachen zu können – und das Zentrum sozusagen Anfang 2020 offiziell zum Leben erwecken zu können.“

Weitere Informationen

Zentraler Bestandteil des Mecilas ist die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Zurzeit forschen drei Postocs am Forschungskolleg zu unterschiedlichen Themen:

Maya Manzi: Die Geografin betrachtet die Wissensdimension der „Conviviality“ in ungleichen Gesellschaften Lateinamerikas und der Karibik. Sie untersucht, wie verschiedene Formen von (lokalem, wissenschaftlichem und Experten-)Wissen die Beziehungen von Gesellschaft und Umwelt in der Region strukturieren, mitverhandeln und repräsentieren.

Luciane Scarato: Die Geschichtswissenschaftlerin nimmt eine historische (Re-)Konstruktion von ungleichen Kontexten, Erfahrungen und Akteuren in Lateinamerika vor. Sie konzentriert sich dabei auf verschiedene „Wendepunkte“, von der Kolonialzeit bis zum späten 20. Jahrhundert, in denen sich bestehende Modelle des Umgangs mit Differenz und Ungleichheit verändert haben.

Fernando dos Santos Baldraia Sousa: Der Historiker widmet sich in seinem Forschungsprojekt der Verfeinerung des Differenzbegriffs. Ausgehend von der Debatte um Anerkennung und Umverteilung (Honneth/Fraser) befasst er sich mit dem Potenzial der Critical Race, Postcolonial und Gender Studies, den Begriff der Differenz neu zu rahmen.