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„Kindesvernachlässigung gibt es in allen Ländern“

21. und 22. März: Interdisziplinäre Tagung an der Freien Universität zum Thema Kinderschutz und Wohlbefinden von Kindern / Interview mit den Organisatorinnen, den Sozialpädagoginnen Friederike Lorenz und Professorin Ulrike Urban-Stahl

14.03.2019

Die Tagung „Child maltreatment and well-being" behandelt verschiedene Themen: von Kinderarmut und Mitbestimmung von Kindern in der Kita über Verletzbarkeit und Wohlbefinden von Kindern bis hin zur sexuellen Gewalt im Internet.

Die Tagung „Child maltreatment and well-being" behandelt verschiedene Themen: von Kinderarmut und Mitbestimmung von Kindern in der Kita über Verletzbarkeit und Wohlbefinden von Kindern bis hin zur sexuellen Gewalt im Internet.
Bildquelle: Meike Wittfeld

Ob es sich um Einrichtungen der Katholischen Kirche und ihre Würdenträger handelt, um einen Campingplatz in Nordrhein-Westfalen oder Vorfälle im Familien- und Bekanntenkreis: Sexueller Missbrauch von Kindern und Gewalt gegen sie ist ein leider hochaktuelles Thema. Die Internationale Konferenz „Child maltreatment and well-being“, die mit 50 Kurzvorträgen von 68 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 22 Ländern in der kommenden Woche an der Freien Universität stattfindet, stößt vielleicht auch deshalb auf außergewöhnlich großes Interesse. Die thematische Bandbreite ist groß: von sexueller Gewalt gegen Kinder im Internet über Kinderarmut in verschiedenen Ländern bis hin zur Mitbestimmung von Kindern. Organisiert wurde die Tagung von Ulrike Urban-Stahl, Professorin für Sozialpädagogik, und Friederike Lorenz, Mitarbeiterin des Arbeitsbereichs Sozialpädagogik an der Freien Universität in Kooperation mit Meike Wittfeld (Universität Duisburg-Essen), Timo Ackermann (Alice Salomon Hochschule Berlin) und einem internationalen Organisationskomitee.


Sozialpädagogin Friederike Lorenz hat die Tagung mitorganisiert.

Sozialpädagogin Friederike Lorenz hat die Tagung mitorganisiert.
Bildquelle: Katja Harbi

Frau Professorin Urban-Stahl, Frau Lorenz, wie ist die Idee zur Tagung entstanden?

Friederike Lorenz: Das war 2015 in Israel auf einem internationalen Workshop für Promovierende zum Thema Kinderschutz. Damals wurde verabredet, regelmäßig Tagungen in wechselnden Ländern zu organisieren und sich aus internationaler und interdisziplinärer Perspektive über Forschung zur Situation von Kindern auszutauschen. Die erste Konferenz fand im Juli 2017 an der Universität Rijeka in Kroatien statt, nun haben wir eine zweite in Berlin organisiert. Wo die dritte stattfindet, entscheiden wir auf der Tagung.

Professorin Ulrike Urban-Stahl forscht und lehrt zu Kinderschutz, Kinder- und Jugendhilfe, zu Gewalt in der Familie und in pädagogischen Institutionen sowie zu Beschwerdeverfahren und Ombudsstellen in der Kinder- und Jugendhilfe.

Professorin Ulrike Urban-Stahl forscht und lehrt zu Kinderschutz, Kinder- und Jugendhilfe, zu Gewalt in der Familie und in pädagogischen Institutionen sowie zu Beschwerdeverfahren und Ombudsstellen in der Kinder- und Jugendhilfe.
Bildquelle: Privat

Ulrike Urban-Stahl: Nachdem wir die Tagung bekannt gemacht hatten, waren wir selbst überrascht von dem großen Interesse, auf das das Thema stieß. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer kommen aus 22 Ländern und fünf Kontinenten. Die Kernthemen reichen von Kinderarmut und Mitbestimmung von Kindern in der Kita über Verletzbarkeit und Wohlbefinden von Kindern bis hin zur sexuellen Gewalt im Internet. Außerdem sind mehrere Workshops geplant. Die Tagung richtet sich an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller Qualifikationsphasen aus den Disziplinen Soziale Arbeit, Psychologie, Medizin, Recht und Sozialwissenschaften.

In einem der Kernvorträge geht es um die Erforschung kindlicher Sichtweisen auf das Thema Armut. Was bringt diese Perspektive?

Urban-Stahl: Der Staat greift auf statistische Untersuchungen zurück, um Armut zu definieren. Doch das sagt noch nichts darüber aus, wie Kinder Armut empfinden. Daher nimmt die Forschung seit einiger Zeit verstärkt die Perspektive von Familien und Kindern in den Blick. Ein Beispiel, bei dem Armut für Kinder im Alltag erfahrbar wird, ist das Bildungs- und Teilhabepaket. Dabei handelt es sich um einen Zuschuss zum Hartz-IV-Satz für Kinder, der von den Eltern beantragt werden muss. Das macht ärmeren Kindern den Unterschied zu Kindern aus wohlhabenden Familien bewusst. Anders verhält es sich, wenn pädagogische Institutionen Angebote ohne zusätzliche Kostenbeiträge gestalten.

Ein weiteres wichtiges Thema ist der sexuelle Missbrauch von Kindern, der durch Kontaktaufnahme im Internet möglich wird. Wie ist hier der Forschungsstand?

Urban-Stahl: Bei diesem Thema handelt es sich um ein recht neues Feld. Erst jetzt beginnt die Forschung allmählich, das Ausmaß zu verstehen. Die Kontaktaufnahme zu Kindern im Netz und der daraus entstehende Missbrauch sind schwer zu untersuchen. Fragen, denen wir auf der Tagung nachgehen möchten, sind zum Beispiel: Was kennzeichnet diese Form von Gewalt gegen Kinder? Welche Präventions- und Interventionsmöglichkeiten gibt es, auch durch internationale Zusammenarbeit?

Wie unterscheiden sich die Länder, aus denen Forschende an der Tagung teilnehmen werden, beim Thema Gewalt an Kindern?

Lorenz: Kindesvernachlässigung gibt es in allen Ländern. Auch Themen wie Machtmissbrauch und Gewalt gegen Kinder in der Familie und in Institutionen sind länderübergreifende Phänomene. Zugleich gibt es jedoch Unterschiede hinsichtlich der gesellschaftlichen Bewertung dieser Phänomene und der Gestaltung von Hilfesystemen. Schon innerhalb von Europa sind hier unterschiedliche Entwicklungen zu beschreiben: In Schweden ist körperliche Züchtigung von Kindern seit 1979 gesetzlich verboten, in Deutschland seit 2000 und in Frankreich wurde erst Ende 2018 ein entsprechender Gesetzentwurf verabschiedet.

Wie ist der Stand des Kinderschutzes in Deutschland?

Urban-Stahl: In den vergangenen 15 Jahren wurde der Kinderschutz in Deutschland erheblich weiterentwickelt. Es gibt verbindliche Verfahren für das Vorgehen in Jugendämtern, einen Ausbau früher Hilfen und die Einbeziehung anderer Professionen wie Ärzte und Lehrkräfte in diese Aufgabe. Gleichwohl muss daran weiter gearbeitet, etwa an der Verbesserung der interdisziplinären Kooperation oder der Ausstattung von Jugendämtern. Neben dem Schutz von Kindern gewinnt aber auch das Thema Beteiligung von Kindern in der Forschung an Relevanz, zum Beispiel in der Kita. Doch Kinder, insbesondere jüngere Kinder, nicht nur in ihrem Schutzbedürfnis, sondern auch in ihrem Recht auf Mitsprache und Selbstbestimmung wahrzunehmen, da gibt es noch viele Vorbehalte. Hier sehen wir deutlichen Entwicklungsbedarf.

Die Fragen stellte Peter Schraeder