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Herkulesaufgabe in den Gärten der Kleinen Fächer

Die Arabistik-Professorin der Freien Universität Beatrice Gründler wurde mit dem Berliner Wissenschaftspreis 2019 ausgezeichnet

19.11.2019

Als ob man jeden Tropfen eines Wasserfalls einzeln verfolgen wolle, so beschrieb Beatrice Gründler ihr Forschungsvorhaben, für das sie im Rahmen einer Feierstunde im Museum für Naturkunde den Berliner Wissenschaftspreis 2019 erhielt. Die mit 40.000 Euro höchstdotierte Wissenschaftsauszeichnung des Landes Berlin überreichte ihr der Regierende Bürgermeister und Senator für Wissenschaft und Forschung Michael Müller.

v.l.n.r.: Prof. Dr. Johannes Vogel (Generaldirektor Museum für Natukunde Berlin); Preisträgerin Prof. Dr. Beatrice Gründler; Nachwuchspreisträger Prof. Dr. Steve Albrecht; Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte; Michael Müller; Prof. Dr. Jürgen Mlynek.

v.l.n.r.: Prof. Dr. Johannes Vogel (Generaldirektor Museum für Natukunde Berlin); Preisträgerin Prof. Dr. Beatrice Gründler; Nachwuchspreisträger Prof. Dr. Steve Albrecht; Prof. Dr. Erika Fischer-Lichte; Michael Müller; Prof. Dr. Jürgen Mlynek.
Bildquelle: Senatskanzlei – Wissenschaft und Forschung

„Kalīla and Dimna“– das ist ein in Fabelform verfasster Fürstenspiegel zur Erziehung heranwachsender Herrscher, eine der frühesten arabischen Prosaschriften und ein zentraler Text der arabischen Weisheitsliteratur aus dem 8. Jahrhundert. Die Text-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte dieses Werkes zu untersuchen und eine digitale kritische und kommentierte Edition herauszugeben, ist das Ziel von Beatrice Gründler, Professorin am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin. „Eine Herkulesaufgabe“, nannte Erika Fischer-Lichte, Seniorprofessorin für Theaterwissenschaft an der Freien Universität, das Vorhaben in ihrer Laudatio. Denn der heute fast unbekannte Text, der teilweise auf zwei frühe Sanskritquellen aus Indien zurückgeht, hatte sich zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert wie ein Lauffeuer verbreitet, war bis zum 19. Jahrhundert in rund 40 europäische und nahöstliche Sprachen übersetzt und dabei jedes Mal verändert worden. Auch der arabische Text selbst wurde über dieselbe Zeitspanne immer wieder umgeschrieben.

Berliner Kompetenz

„Dieser waghalsige Versuch, einen Text wie Kalīla und Dimna in seiner Bewegung zu studieren, stößt an die Grenzen der individuellen Arbeit“, bestätigte Beatrice Gründler. Nur im Team und nur in Zusammenarbeit über die Fachgrenzen hinaus könne das gelingen. Sprachkompetenz, um etwa Sanskrit, Syrisch, Persisch und Altkastilisch zu vergleichen, seien notwendig. Ebenso würden die Möglichkeiten der digitalen Geisteswissenschaften, der Digital Humanities, benötigt. Denn die Metamorphose des Textes sei allein im Arabischen derartig groß, dass eine Darstellung ohne Unterstützung von Informatikerinnen und Informatikern nicht möglich sei, sagte die Wissenschaftlerin. Interdisziplinarität ist für sie daher grundlegend: „Nur in Berlin findet man diese Doppelkompetenz von Informatik und Arabisch.“

Als Beatrice Gründler vor fünf Jahren an die Freie Universität kam, sei die Hochschule für sie „das große Ungewisse“ gewesen. Denn nach knapp drei Jahrzehnten in den USA, wo sie an der Harvard University promoviert wurde und anschließend fast 20 Jahre lang an der Yale University lehrte, sei es zunächst eine Herausforderung gewesen, die Strukturen einer staatlichen deutschen Universität zu verstehen.

Nach Berlin und an die Freie Universität gezogen habe die Arabistin unter anderem der dortige Reichtum an sogenannten Kleinen Fächern: „Mit einem Schritt ist man im Nachbargarten bei den Islamwissenschaften, der Romanistik, Turkologie, Byzantinistik, Altorientalistik, Ägyptologie und vielen mehr. Und dies sind keine eingezäunten Schrebergärten, sondern es ist eine Parklandschaft mit verschlungenen Wurzeln und Ästen.“

 

Die Text-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werks „Kalīla and Dimna“ zu untersuchen und eine digitale kritische und kommentierte Edition herauszugeben, ist das Ziel von Beatrice Gründler.

Die Text-, Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werks „Kalīla and Dimna“ zu untersuchen und eine digitale kritische und kommentierte Edition herauszugeben, ist das Ziel von Beatrice Gründler.
Bildquelle: Senatskanzlei – Wissenschaft und Forschung

Eine andere Perspektive auf die arabische Kultur 

„Beatrice Gründler fragt nicht nach der berühmten Forschungslücke, die gerade ‚in’ ist und die entsprechende Aufmerksamkeit verspricht“, sagte Erika Fischer-Lichte. Vielmehr lasse sie sich immer wieder von ihrer eigenen Faszination für bestimmte Gegenstände, Probleme und Fragen leiten. „Ihre Forschungen ermöglichen und fördern einen Zugang zur arabischen Kultur, der eine ganz andere Perspektive auf sie eröffnet – mit der arabischen Literatur als Bindeglied zwischen Asien und Europa.“

Den öffentlichen und differenzierten Diskurs über die arabisch-islamische Kultur, zu dem Gründler beitrage, sowie die Kultur der Kooperation, die ein Erfolgsfaktor in der Wissenschaftslandschaft Berlins sei, betonte auch der Regierende Bürgermeister und Wissenschaftssenator Michael Müller. Mit ihrer Arbeit und ihrem institutionellen Engagement trage Beatrice Gründler in höchstem Maße zur Profilierung und Sichtbarmachung geisteswissenschaftlicher Forschung am Wissenschaftsstandort Berlin und zur Entwicklung der Digital Humanities als Berliner Zukunftsfeld bei.

Nachwuchspreis

Mit dem Berliner Wissenschaftspreis werden seit 2008 in Berlin entstandene wegweisende Forschungsleistungen und ihre Bedeutung für die Gesellschaft gewürdigt. Zusätzlich wird eine innovative wissenschaftliche Nachwuchsleistung ausgezeichnet. Den mit 10.000 Euro dotierten Preis erhielt in diesem Jahr Professor Steve Albrecht. Der Physiker forscht an der Technischen Universität und dem Helmholtz-Zentrum Berlin auf dem Gebiet der Photovoltaik. Die von ihm und seinem Team entwickelten Tandemsolarzellen wandeln einen größeren Anteil des Sonnenspektrums in elektrische Energie um als herkömmliche und erreichen dadurch deutlich höhere Wirkungsgrade.

Weitere Informationen

Beatrice Gründler studierte in Straßburg, Tübingen und der Harvard University, wo sie 1995 promoviert wurde. Nach einer Gastdozentur am Dartmouth College in New Hampshire lehrte sie ab 1996 an der Yale University, zunächst als Assistenzprofessorin, seit 2002 als Professorin für arabische Literatur. Im Jahr 2014 kehrte sie nach Deutschland zurück, wo sie seitdem am Seminar für Semitistik und Arabistik der Freien Universität Berlin forscht und lehrt.

Sie ist Studienleiterin der Friedrich-Schlegel-Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien und der Graduiertenschule Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Außerdem ist sie Mitglied des Vorstands des Dahlem Humanities Center der Freien Universität Berlin. Beatrice Gründler war von 2010 bis 2011 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.

Sie erhielt 2017 den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den wichtigsten deutschen Forschungsförderpreis, sowie einen ERC Advanced Grant, die höchste Auszeichnung des Europäischen Forschungsrates. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem die arabische Schrift- und Buchkultur, die klassische arabische Literatur und ihre sozialgeschichtlichen Kontexte sowie die Rolle der arabischen Literatur als Bindeglied zwischen Asien und Europa.