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Polyphonie und Widerstand

Beim „internationalen literaturfestival berlin“ waren in der neuen Kooperationsreihe „Echo. Echo“ des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ indigene Autorinnen und Autoren zu Gast

15.09.2021

Toni Jensen, Métis und Schriftstellerin aus den USA

Toni Jensen, Métis und Schriftstellerin aus den USA
Bildquelle: © Sophia Spirlock

Zwischen ihren Herkunftsorten liegen Welten: Jainal Amambing (Rungus), Daniela Catrileo (Mapuche), Toni Jensen (Métis), Billy-Ray Belcourt (Driftpile Cree Nation), Louise Erdrich (Turtle Mountain Band of Chippewa), Hinemoana Baker (Māori), Natalie Diaz (Mojave, Gila River) und Pergentino José (Zapotec) stammen aus Nord- und Südamerika, Kanada, Neuseeland und Malaysia. In ihren Werken beschäftigen sich diese Autorinnen und Autoren mit dem Überleben indigener Gemeinschaften, deren Lebens- und Denkweisen in einer seit Langem andauernden Kolonialkrise als Folge der europäischen Geschichte. Sie überschreiten dabei sprachliche Grenzen und nutzen verschiedene Formen, sie sprechen über die Komplexität kultureller Identität und üben ästhetischen Widerstand. In Deutschland wurden diese indigene Stimmen – mit der Ausnahme von Louise Erdrich – bislang kaum wahrgenommen und übersetzt.

In Lesungen und Gesprächen am 16. und 17. September 2021 sind sie nun in Berlin hör- und sichtbar: in der neuen Reihe „Echo. Echo“ des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ in Kooperation mit dem „internationalen literaturfestival berlin“ (ilb). Campus.leben sprach mit Lindsey Drury, die als Tanzwissenschaftlerin am Cluster zu kolonialer Unterdrückung des indigenen Tanzes forscht, und Sara Ehrentraut, die als Koordinatorin die Kooperation mit dem Literaturfestival betreut.

Frau Drury, Frau Ehrentraut, die insgesamt vier Veranstaltungen der Reihe „Indigenous Voices“ sind selbst schon ein kleines internationales Literaturfestival. Es geht um politischen Aktivismus und Identität. Am Freitagabend, 17. September, sind in einer „Poetry Night“ fünf Autorinnen und Autoren von verschiedenen Kontinenten mit ihren lyrischen Texten zu erleben. Was war Ihnen wichtig bei der Konzeption der Reihe?

Der Schriftsteller Billy-Ray Belcourt (Kanada) gehört den Driftpile Cree Nation an.

Der Schriftsteller Billy-Ray Belcourt (Kanada) gehört den Driftpile Cree Nation an.
Bildquelle: © Tenille Campbell

Sara Ehrentraut: Wir wollten keinen Fokus auf einen bestimmten geografischen Ort oder Kulturkreis legen, denn es geht bei der Kolonialerfahrung um ein globales Phänomen. Trotzdem haben alle Autorinnen und Autoren und die Gemeinschaften, aus denen sie stammen, sehr spezifische Geschichten.

Billy-Ray Belcourt, der der Driftpile Cree Nation angehört, und Toni Jensen, eine Métis, beschäftigen sich in ihren Werken unter anderem mit dem Reservat als Form, der Marginalisierung und der Überformung durch staatliche Strukturen.

Daniela Catrileo hingegen gehört zu den Mapuche, einer indigenen Gruppe, die, wie viele indigene Communities, bis heute in einer sehr konfliktgeladenen Beziehung zu den sie umgebenden Staaten steht. Sie verfolgt in ihrer politischen und literarischen Arbeit einen feministischen Fokus, der sich dekolonial und intersektional versteht.

Lindsey Drury: Es ist großartig, dass auf dem Festival hier in Berlin ein öffentlicher Diskursraum entsteht, in dem die Autorinnen und Autoren über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede, die sie selbst sehen, sprechen können. Sie haben sich gezwungenermaßen über Hunderte von Jahren theoretisch und praktisch mit der Kolonialisierung und dem Erbe der Kolonialgeschichte beschäftigen müssen. In der derzeitigen politischen Situation ist es zentral, dass ihre Positionen gehört werden. Auch für die Arbeit eines literaturwissenschaftlichen Forschungsverbunds, der sich mit Literatur aus globaler Perspektive beschäftigt, ist diese Auseinandersetzung mit Indigenität als Konzept und dem Diskurs der Indigenous Studies wichtig.

Die Reihe heißt „Echo. Echo“. Welche Resonanzeffekte gibt es in den Werken der in diesem Jahr beteiligten Autorinnen und Autoren?

Natalie Diaz (Mojave, Gila River) nimmt am 17. September an der Poetry Night teil.

Natalie Diaz (Mojave, Gila River) nimmt am 17. September an der Poetry Night teil.
Bildquelle: © Lamp Left Media Alonso Parra

Sara Ehrentraut: Bei einigen spielt der konstante Dialog mit der Vergangenheit eine wichtige Rolle. Gleichzeitig aber benutzt unter anderem Billy-Ray Belcourt sowohl in seinen Büchern als auch auf seinen Social-Media-Kanälen das in der Internetkultur als Selbstbezeichnung geläufige Akronym #ndn („Not Dead Native“): um zu zeigen, dass es sich (trotz aller gegenteiligen Bemühungen) um eine lebendige Kultur handelt, auch wenn die explizite, strukturelle wie kulturelle Auslöschung nach wie vor die Existenz dieser Gemeinschaften bedroht. Diese Literatur steht im Dialog mit der entsprechenden Kulturgeschichte, aber die Autorinnen und Autoren sind hier, um das in die Zukunft zu tragen und Widerstand zu leisten.

Lindsey Drury forscht als Tanzwissenschaftlerin am Exzellenzcluster Temporal Communities zu kolonialer Unterdrückung des indigenen Tanzes.

Lindsey Drury forscht als Tanzwissenschaftlerin am Exzellenzcluster Temporal Communities zu kolonialer Unterdrückung des indigenen Tanzes.
Bildquelle: privat

Lindsey Drury: Es geht uns bei den Veranstaltungen nicht darum, die teils sehr vereinheitlichende Kategorie „Indigene Literatur“ vorzustellen, sondern zum Thema „Echo“ ein Gespräch darüber anzufangen, welches Verhältnis die Autorinnen und Autoren zu ihren Gemeinschaften haben, zu ihren Beziehungen zu den Stimmen im Text.

Für mich hat das Thema „Echo“ daher einen weiteren Aspekt: Viele Gemeinschaften stehen unter Druck, indigenes Land wird enteignet, Lebensgrundlagen werden zerstört. Deshalb ist es für viele Autorinnen und Autoren wichtig, Stimme ihrer Gemeinschaften zu sein. Die Figur des Echo kann ein Bild dafür sein, wie diese Autoren versuchen, die eigene Stimme weithin hörbar zu machen, sie zu verstärken und gegen die anhaltenden Praktiken des „silencing“ Widerstand zu leisten.

In Berlin wird derzeit in vielen kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen über das koloniale Erbe nachgedacht und über Dekolonialisierung diskutiert. Auch das sind Echos – der Widerhall von Debatten, die an vielen Orten der Welt stattfinden.

Die Reihe soll in den nächsten Jahren fortgesetzt werden. Welche weiteren Schwerpunkte sind geplant?

Sara Ehrentraut betreut als Koordinatorin am Exzellenzcluster Temporal Communities die Kooperation mit dem internationalen literaturfestival.

Sara Ehrentraut betreut als Koordinatorin am Exzellenzcluster Temporal Communities die Kooperation mit dem internationalen literaturfestival.
Bildquelle: Clara Kahn

Sara Ehrentraut: Wir, der Exzellenzcluster „Temporal Communities“, und das ilb hätten gerne schon in diesem Jahr andere Kunstformen wie Musik einbezogen – die Pandemie hat uns jedoch sehr auf den digitalen Raum beschränkt. Die vielfältigen Medien der Literatur stärker abzubilden, wäre mein Wunsch für das nächste Jahr, um den erweiterten Literaturbegriff des Clusters weiter zu erkunden und in einem intermedialen Dialog weiterzuverfolgen.

Das sind ja auch komplizierte, wissenschaftliche Fragen. Warum ist es Ihnen wichtig, dass der Forschungsverbund auf einem großen internationalen Literaturfestival präsent ist?

Sara Ehrentraut: „Temporal Communities“ ist ein literaturwissenschaftlicher Cluster, und wir stehen in Kontakt mit dem Literaturbetrieb. Durch unsere Kooperation mit dem „internationalen literaturfestival berlin“ erreichen wir ein ganz anderes Publikum als durch unsere Arbeit an der Uni. Wir können die Fragen, die in der Wissenschaft diskutiert werden, dadurch kuratorisch in die Stadt tragen.

Die Fragen stellte Nina Diezemann

Weitere Informationen

Ziel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2019 geförderten Exzellenzclusters „Temporal Communities“ ist es, die Konzeption von Literatur in globaler Perspektive neu zu denken. Mit dem Konzept der „Temporal Communities“ wird dabei untersucht, wie Literatur über Räume und Zeiten hinweg ausgreift – manchmal über Jahrtausende – und dabei komplexe Zeitlichkeiten und Netzwerke ausbildet und in ständigem Austausch mit anderen Künsten, Medien, Institutionen und gesellschaftlichen Phänomenen steht. Die Kooperation zwischen dem Exzellenzcluster Temporal Communities und dem „internationalen literaturfestival berlin“ besteht seit drei Jahren. Alle bisherigen Veranstaltungen sind auf dieser Website gebündelt.

Das Programm des Exzellenzclusters „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“ auf dem 21. „internationalen literaturfestial berlin“ fand am 16. und 17. September statt. 

Sehen Sie hier eine Aufzeichnung der Veranstaltung: Poetry Night mit Hinemoana Baker, Daniela Catrileo, Billy-Ray Belcourt, Natalie Diaz und Pergentino José – Autorinnen und Autoren indigener Gemeinschaften Neuseelands, Kanadas, den USA und Mexikos lesen aus ihren Werken