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„Ideologisch aufgeladen“: Podiumsdiskussion zum Mythos Muttersprache

Kooperationsveranstaltung des Interdisziplinären Zentrums europäische Sprachen und des Dahlem Humanities Center fand im Rahmen der Berlin Science Week statt

26.11.2021

Können Sprachen Menschen zusammenbringen oder ausgrenzen? Darum ging es bei der Podiumsdiskussion „Mythos Muttersprache“. Die Veranstaltung war eine Kooperation des Interdisziplinären Zentrums europäische Sprachen und des Dahlem Humanities Center.

Können Sprachen Menschen zusammenbringen oder ausgrenzen? Darum ging es bei der Podiumsdiskussion „Mythos Muttersprache“. Die Veranstaltung war eine Kooperation des Interdisziplinären Zentrums europäische Sprachen und des Dahlem Humanities Center.
Bildquelle: Pixabay

„Heute wir in einem sitzen Hörsaal groß“, eröffnet Professor Matthias Hüning die Veranstaltung. Die Zuhörerinnen und Zuhörer verstehen den Satz, aber „wenn Sie Deutsch als Ihre Muttersprache ansehen, haben Sie sofort gemerkt, dass der Satz grammatikalisch falsch ist“. Damit ist der Sprachwissenschaftsprofessor beim Thema dieses Abends angekommen: Es geht um den Mythos Muttersprache – einen ideologisch aufgeladenen Begriff, erklären Professorin Karin Gludovatz, Sprecherin des Dahlem Humanities Center, und Professor Georg Bertram, Dekan des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften in ihrer Einleitung.

Alle Menschen haben eine Sprache, in der sie sich ohne Probleme verständigen können: ihre Muttersprache, die erste Sprache, die sie als Kleinkinder durch die Kommunikation der Eltern lernen. In ihr denken und fühlen wir. „Oder etwa nicht?“, fragt der Sprachwissenschaftler Horst Simon, der die Podiumsdiskussion mit Matthias Hüning moderiert.

Die Autorin Olga Grjasnowa sieht das anders. Russisch sei die erste Sprache gewesen, die sie verstanden habe; ihre Werke verfasse sie aber in deutscher Sprache. „Ich kann mich auf Deutsch viel besser ausdrücken als auf Russisch.“ Sie betrachte Deutsch jedoch auch nicht als ihre Muttersprache. Welche dann? „Ganz einfach: Ich habe keine Muttersprache.“

Ähnlich geht es der Afrikanistikprofessorin Friederike Lüpke von der Universität Helsinki. Sie sei einsprachig aufgewachsen – zu Hause wurde Deutsch geredet –, aber ihre Muttersprache sei das für sie nicht. Den Begriff lehne sie ab, weil er missverständlich sei. „Das ist ja nicht immer die Sprache, die die Mutter spricht“, erklärt sie. In welcher Sprache sie sich wohlfühle, hänge außerdem von der Situation ab: „Mir fällt es zum Beispiel schwer, wissenschaftliche Vorträge auf Deutsch zu halten.“

Der dritte Gast in der Diskussionsrunde ist der Direktor der Gilberto-Bosques-Volkshochschule Maik Walter. Er ist Lehrer für Deutsch als Fremdsprache und verbindet vielleicht deswegen das Wort Muttersprache mit dem Schulunterricht. „Ich musste sofort an das gleichnamige Lehrbuch denken, das wir früher in der Schule hatten“, sagt er. Viele Menschen glaubten, sie hätten ihre Muttersprache intuitiv erlernt. Das sei aber nicht so, denn als Kind bekäme man Grammatikregeln antrainiert.

v. l. n. r.: Friederike Lüpke, Maik Walter, Olga Grjasnowa, Horst Simon und Matthias Hüning diskutieren, wofür der Begriff Muttersprache steht.

v. l. n. r.: Friederike Lüpke, Maik Walter, Olga Grjasnowa, Horst Simon und Matthias Hüning diskutieren, wofür der Begriff Muttersprache steht.
Bildquelle: Screenshot: Anne Stiller

Gute Sprache, schlechte Sprache

Ob Sprachen Menschen zusammenbringen oder sie ausgrenzen, möchte Horst Simon wissen. „Wenn ich eine Sprache lerne, lerne ich auch das Land und die Kultur kennen. Dadurch trete ich mit anderen Menschen in Kontakt“, erklärt Maik Walter.

Wie gut jemand eine Sprache beherrsche, dürfe jedoch nicht darüber entscheiden, ob er oder sie zu einer Gruppe gehöre oder nicht. „Aber genau das geschieht häufig in Nationalstaaten, auch in Deutschland“, kritisiert Friederike Lüpke. Viele Menschen hierzulande würden einsprachig leben, also Deutsch als Erstsprache sprechen und sich nur darin verständigen. Anhand der Sprachkenntnisse werde dann beurteilt, ob jemand „deutsch genug“ sei.

Wer viele Sprachen möglichst fließend beherrscht, gilt als weltoffen. Allerdings sei nicht entscheidend, ob jemand neben der Erstsprache noch weitere Sprachen beherrsche; wichtiger sei, welche Sprachen dies seien, sagt Olga Grjasnowa. Englisch- und Französischkenntnisse stünden für Modernität und Bildung, bei Türkisch oder Arabisch sehe das anders aus: „Menschen, die zwischen der türkischen und der deutschen Sprache wechseln, gelten als schlecht integriert.“

Maik Walter bestätigt diesen Eindruck. „Seit Jahren setzen sich Pädagoginnen und Pädagogen vergeblich dafür ein, dass deutsche Schulen Türkischunterricht anbieten.“ Dabei gehöre Türkisch zu den am häufigsten gesprochenen Zweitsprachen in Deutschland.

Vielfalt macht die Welt komplex

Friederike Lüpke hat für ihre Arbeit in Westafrika gelebt. In manchen Regionen verstünden die Menschen bis zu sieben Sprachen, erzählt sie. „Niemand hat dort eine Muttersprache. Da wird Mehrsprachigkeit gelebt!“.

Ist so etwas auch in Deutschland möglich? Das sei bereits unser Alltag, sagt Maik Walter und spricht die vielen Variationen der deutschen Sprache an: „Wir sprechen ja nicht nur Deutsch, sondern auch Bairisch, Schwäbisch oder Plattdeutsch.“ Bei dieser Vielfalt müsse man sich fragen, inwiefern das Konzept der einen Muttersprache sinnvoll sei – oder ob es sich dabei nicht tatsächlich um einen Mythos handele.