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An den Brennpunkten der Welt

Das INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung an der Freien Universität startet mit drei Nachwuchsgruppen

13.01.2022

Jannis Grimm, Mariam Salehi und Hannah Franzki leiten jeweils eine Nachwuchsgruppe am neuen INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung, das im November seinen Betrieb an der Freien Universität Berlin aufgenommen hat.

Jannis Grimm, Mariam Salehi und Hannah Franzki leiten jeweils eine Nachwuchsgruppe am neuen INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung, das im November seinen Betrieb an der Freien Universität Berlin aufgenommen hat.
Bildquelle: Marion Kuka

„Wir wollen nicht nur forschen, sondern auch in den politischen Raum hineinwirken und Debatten zu aktuellen Konflikten wissenschaftlich anreichern“, sagt Mariam Salehi. Dafür sei Berlin genau der richtige Standort, denn neben den Bundesministerien seien auch zahllose politikwissenschaftliche Institute, politische Stiftungen, Botschaften, Nichtregierungsorganisationen in Reichweite, sagt die Politikwissenschaftlerin.

Mariam Salehi leitet eine von drei Nachwuchsgruppen am INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung, das im November seinen Betrieb an der Freien Universität Berlin aufgenommen hat.

Gegründet wurde es auf höchste Weisung: Der Wissenschaftsrat hatte 2019 empfohlen, die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland zu stärken. Die Mitglieder sprachen sich unter anderem für eine bessere Vernetzung innerhalb des Forschungsfeldes und mit angrenzenden Disziplinen aus. Der Berliner Senat hatte den richtigen Riecher und stellte bereits im letzten Hochschulsenat die Mittel für ein Forschungszentrum bereit, das an der Freien Universität angesiedelt wurde.

Dort leiten Hannah Franzki, Jannis Grimm und Mariam Salehi nun jeweils eine Nachwuchsgruppe mit zunächst dreijähriger Laufzeit. Vor wenigen Wochen zogen die drei Postdocs in die obere Etage einer kleinen Villa mit Garten in der Dahlemer Altensteinstraße 48. Das ehemalige Wohnhaus des Chemienobelpreisträgers Otto Hahn beherbergte zuvor die Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies. Sie ist mittlerweile in die Hittorfstraße 18 umgezogen.

Die Aufgabe: Anwendungsorientierte Grundlagenforschung

Die Büros sind noch nicht ganz fertig eingerichtet, die Corona-Pandemie hat den Start nicht gerade leicht gemacht. Doch nun soll das Team bald größer werden: „Aktuell haben wir drei Promotionsstellen ausgeschrieben“, sagt Jannis Grimm. Außerdem sei geplant, Kontakte mit Partnern in Berlin, Deutschland und dem Globalen Süden aufzubauen, Gäste einzuladen und interessierten Konfliktforscherinnen und -forschern der Freien Universität die Möglichkeit zu geben, an das Zentrum anzudocken.

Anwendungsorientierte Grundlagenforschung – das sei ihre Aufgabe: „Wir versuchen, gewaltsame Konflikte überall auf der Welt zu identifizieren, kritisch einzuordnen und die Prozesse dahinter zu verstehen“, sagt Hannah Franzki. „Das gelingt am besten, wenn wir Fächergrenzen hinter uns lassen.“ Klassischerweise sei die Friedens- und Konfliktforschung in der Politikwissenschaft und im Fach Internationale Beziehungen angesiedelt. Am INTERACT Zentrum sollen jedoch auch Soziologie, Informatik, Rechtwissenschaft und andere Disziplinen einbezogen werden.

Zum Steuerungskomitee des Zentrums gehören deshalb Professorinnen und Professoren verschiedener Fachrichtungen: Sven Chojnacki und Tobias Berger aus der Politikwissenschaft, Heike Krieger aus der Rechtswissenschaft, Swen Hutter aus der Soziologie und Volker Roth aus der Informatik. Lehren werden Hannah Franzki, Mariam Salehi und Jannis Grimm jedoch vorwiegend am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft.

campus.leben hat Hannah Franzki, Jannis Grimm und Mariam Salehi gefragt, was sie sich von der Außenpolitik der neuen Bundesregierung erhoffen und was die neue Außenministerin auf dem Schirm haben sollte.

Gewalt ging auch von der ehemaligen Kolonialmacht aus

Ihre Nachwuchsgruppen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Mariam Salehi widmet sich „Transnational Conflicts“. Sie fragt, wie politische, soziale, ökonomische und rechtliche Faktoren in transnationalen Konflikten zusammenwirken und welche Folgen sich daraus für die Konfliktregulierung ergeben.

In ihrer Dissertation „Tunesia's Transitional Justice in Process. How Planned Processes of Change Interplay With Unplanned Ones“ analysierte die Politikwissenschaftlerin die Justiz in Tunesien nach dem Sturz der Diktatur im Jahr 2011. Eine Wahrheitskommission, begleitet von internationalen Institutionen, hat die Verbrechen des Regimes aufgearbeitet. „In der Forschung kam die Frage auf, ob diese Form der technokratischen Konfliktbearbeitung den nötigen Raum für emanzipatorische Kämpfe bietet“, sagt Mariam Salehi.

Porträtfoto von Mariam Salehi, Politikwissenschaftlerin am INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin

Die Politikwissenschaftlerin Mariam Salehi.

Tatsächlich hätten einige Gruppen die Einrichtung der Wahrheitskommission genutzt, um deutlich zu machen, dass Gewalt nicht nur vom nationalen Regime, sondern auch von der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich ausgegangen sei – und durch internationale Finanzinstitutionen befördert wurde. „Wir müssen genau betrachten, wer auf welche Weise Wissen über Gewaltherrschaft und Konflikte schafft. Denn bei der Wissensproduktion werden bereits bestimmte Vorstellungen von Gerechtigkeit geformt.“

In ihrem neuen Projekt will die Politikwissenschaftlerin nun am Beispiel weiterer Länder das Zusammenspiel von technokratisierten und emanzipatorischen Kämpfen um Gerechtigkeit untersuchen.

Arabischer Frühling – friedlich trotz Repression

„Radical Spaces“ heißt Jannis Julien Grimms Schwerpunkt. Der Politik- und Islamwissenschaftler promovierte an der Berlin Graduate School Muslim Cultures and Societies der Freien Universität. Er arbeitete unter anderem für die Stiftung Wissenschaft und Politik und die Friedrich-Ebert-Stiftung an Projekten im Nahen Osten und in Nordafrika.

Besonders fasziniert habe ihn, dass die Protestierenden in der zweiten Welle des Arabischen Frühlings in Algerien, Sudan und Libanon trotz massiver staatlicher Repressionen bislang friedlich geblieben sind. Radikalisierung sei ausgeblieben –  die sozialen Bewegungen äußerten ihre Radikalität vielmehr in einem Bekenntnis zu absoluter Gewaltfreiheit. „Vielleicht hatte es damit zu tun, dass die Menschen in diesen Ländern bereits einen schweren Bürgerkrieg erlebt hatten, vielleicht aber auch mit den Lehren des Arabischen Frühlings von 2011 oder mit einer anders bedingten politischen Kultur.“

Porträtfoto von Jannis Grimm, Politik- und Islamwissenschaftler am INTERACT Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung der Freien Universität Berlin

Der Politik- und Islamwissenschaftler Jannis Grimm.

Auch nach dem Rabaa-Massaker in Kairo 2013 – das Jannis Grimm in seinem jüngsten Buch erforscht hat – als staatliche Sicherheitskräfte brutal ein Protestcamp der Mursi-Anhänger räumten, hätten starke symbolische Prozesse einer Radikalisierung der Protestierenden entgegengewirkt, selbst dann noch, als sie unter Beschuss genommen wurden. „Dort hatte sich eine kollektive Identität als prodemokratische, antimilitärische Bewegung herausgebildet, die Gewalt als politische Mittel letztlich ausschloss“, argumentiert Jannis Grimm.

Inzwischen gäbe es auf der ganzen Welt solche Prozesse, etwa in Hongkong oder in Chile. „Radikal kann auch heißen, radikal gewaltfrei zu bleiben, sogar dann, wenn man Repressionen erfährt.“ In seinem aktuellen Projekt geht Jannis Grimm deshalb der Frage nach, wann und wie sich entscheidet, ob die Interaktion von Behörden und Protestbewegungen politische Gewalt befördert oder einhegt.

Unternehmen auf der Anklagebank

Unter der Überschrift „Blurring Boundaries“ beschäftigt sich die Politik- und Rechtswissenschaftlerin Hannah Franzki mit Konflikten im Kontext der Wirtschaftsaktivitäten transnationaler Unternehmen. In ihrem aktuellen Projekt geht es insbesondere um die Frage, wie die Grenze zwischen als legitim erachteter Form des Wirtschaftens einerseits und als unzulässig betrachteter unternehmerischer Tätigkeit andererseits im Internationalen Recht seit Beginn der Kolonialzeit verhandelt wurde.

Porträtfoto von Hannah Franzki, Politik- und Rechtswissenschaftlerin am Interact Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung der Freien Uniersität Berlin

Die Politik- und Rechtswissenschaftlerin Hannah Franzki.

Mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit möchte die Politik- und Rechtswissenschaftlerin auch politische Akteurinnen und Akteure unterstützen, deren Ressourcen für Forschung knapp sind. Dabei wolle sie jedoch keine Handlungsanweisungen geben, sondern systematisieren und kritisches Wissen produzieren, das den Akteuren dabei hilft, eigene Position zu formulieren.

Als Beispiel nennt sie ihre Forschung zu Strafprozessen in Argentinien, in denen seit Anfang der 2000er Jahre über die Beteiligung großer Unternehmen an Menschenrechtsverletzungen zur Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 verhandelt wird. Hannah Franzki hat die Verfahren strategisch analysiert und ihre Ergebnisse der Gruppe der Klägerinnen und Kläger in Form von kurzen Memos zur Verfügung gestellt.

„Wir haben verschiedene Blickwinkel“

Ihr Fazit: Die Gerichtsverfahren sind ein geeignetes Mittel, um die Aufarbeitung der Diktatur in Argentinien wieder auf die Agenda zu setzen. Allerdings sei es nicht gelungen, die tatsächliche Macht der Unternehmen darzustellen, weil das Strafrecht von einer klaren Trennung zwischen dem staatlichen Repressionsapparat einerseits und der punktuellen Beihilfe wirtschaftlicher Akteure andererseits ausgehe. „Die Arbeiterinnen und Arbeiter in den großen Fabriken auf dem Land haben es damals aber genau umgekehrt erlebt“, sagt Hannah Franzki.

Die drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler freuen sich darauf, mit ihren eigenen Nachwuchsgruppen künftig unabhängig, aber trotzdem im Team zu forschen. „Jannis arbeitet viel mit Diskurstheorien, Hannah hat den kritisch-juristischen Blick, meine Methode ist die Prozesssoziologie“, sagt Mariam Salehi. „Wir haben verschiedene Blickwinkel, und damit ergänzen wir uns gut.“

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