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„Ich bin als Forscherin irritiert“

Das Bundeswissenschaftsministerium hat die Förderung von BioTip gestoppt, eines laufenden Klima- und Biodiversitätsprojektes, an dem auch die Freie Universität beteiligt ist – ein Interview mit Marianne Braig und Regine Schönenberg vom LAI

11.07.2022

Dr. Marianne Braig ist Politikwissenschaftsprofessorin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sie war bis vergangene Woche Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin für Forschung.

Dr. Marianne Braig ist Politikwissenschaftsprofessorin am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin. Sie war bis vergangene Woche Vizepräsidentin der Freien Universität Berlin für Forschung.
Bildquelle: Bernd Wannenmacher

„So etwas habe ich als Wissenschaftlerin noch nicht erlebt“, sagt Marianne Braig, Politikwissenschaftsprofessorin am Lateinamerika-Institut (LAI) der Freien Universität, kurz nach ihrem Ausscheiden als Vizepräsidentin für Forschung: Zwei Jahre vor dem offiziellen Ende und mitten im laufenden Verfahren hat das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung (BMBF) die Förderung des international vernetzten Projekts „BioTip – Kipppunkte, Dynamik und Wechselwirkungen von sozialen und ökologischen Systemen“ beendet. Und damit vor der produktiven Schlussphase, in der nicht nur die über vier Jahre erhobenen Daten ausgewertet werden, sondern auch die Ergebnisse mit den Bewohnerinnen und Bewohnern der betroffenen Länder geteilt werden sollten – eine Verpflichtung wissenschaftlich-ethischen Arbeitens.

„Ich bin als Forscherin irritiert“, sagt Marianne Braig. Ihre Kollegin Regine Schönenberg, promovierte Politikwissenschaftlerin und Leiterin des am LAI angesiedelten BioTip-Teilprojekts „PRODIGY – Boden-Biodiversität als Kipppunkt im Amazonasgebiet“ hat einen offenen Brief an das BMBF verfasst. Ein Gespräch zu den Hintergründen und konkreten Auswirkungen des Förderstopps.

Frau Professorin Braig, Frau Schönenberg, „PRODIGY – Boden-Biodiversität als Kipppunkt im Amazonasgebiet“ ist eines von sieben BioTip-Projekten und am LAI angesiedelt. Zunächst einmal: Was hat das politik- und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Lateinamerika-Institut mit klima- und geowissenschaftlicher Forschung zu tun?

Dr. Regine Schönenberg, Politikwissenschaftlerin am Lateinamerika-Institut, leitet das BioTip-Teilprojekt PRODIGY. Das BMBF hat auf den von ihr initiierten offenen Brief bisher nicht reagiert.

Dr. Regine Schönenberg, Politikwissenschaftlerin am Lateinamerika-Institut, leitet das BioTip-Teilprojekt PRODIGY. Das BMBF hat auf den von ihr initiierten offenen Brief bisher nicht reagiert.
Bildquelle: Privat

Regine Schönenberg: Ökologische Kipppunkte setzen jeweils eine Kaskade von Kipppunkten in anderen Bereichen in Gang. Dadurch sind viele Fächer betroffen. Unser Team am LAI begleitet die Ursachenforschung von Naturzerstörung im Amazonasgebiet sozialwissenschaftlich, das heißt, wir betrachten die Ursachen und Auswirkungen auf die Gesellschaft.

Was wird bei PRODIGY konkret untersucht?

Regine Schönenberg: Untersucht werden die Bodenbeschaffenheit und die sozial-ökologische Transformation in dem geografischen Dreieck zwischen Bolivien, Peru und Brasilien, einem sehr schwer zugänglichen Gebiet. Dafür werden unter anderem die Bodenorganismen DNA-kartiert.

Die Bodenzusammensetzung – ganz gleich wo auf der Welt – ist so wichtig, weil sie unmittelbare Auswirkungen auf das gegenwärtige und zukünftige Leben von Menschen hat. Wenn beispielsweise die Vielfalt dieser Organismen stark reduziert ist, bedeutet das für die Menschen der Region, dass Klimaveränderungen wie extreme Trockenperioden oder Starkregen nicht mehr ausgeglichen werden können.

Die Aufgabe unseres Teams – wir sind drei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Abteilung Politik des LAI der Freien Universität Berlin und der Konfliktforschung der Universität Landau – ist es, gemeinsam mit den Umweltmodellierern der Universität Kassel, Zukunftsszenarien für die kulturell diverse Amazonas-Bevölkerung mit Blick auf das Jahr 2050 zu entwerfen und mögliche Lösungsansätze zu formulieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir simulieren, wie sich Veränderungen in der Landnutzung auf die zukünftige Wirtschaftsleistung und das Regenregime auswirken könnten. Damit dann rechtzeitig an den regulatorischen Stellschrauben gedreht werden kann. Aber auch, um Entscheidungsträgern klarzumachen, was die weitere Abholzung des Amazonasregenwaldes für die Region und die Welt bedeuten kann: Der Regenwald der Amazonasregion produziert Regen für ganz Südamerika und ist zudem eine Säule des Weltklimas.

Offiziell ist BioTip, und damit auch PRODIGY, 2019 gestartet, aber Sie arbeiten bereits seit vielen Jahren in der Region. Warum dieser Vorlauf?

Regine Schönenberg: Das etwa zehnköpfige Kernteam arbeitet seit 2011 interdisziplinär in Amazonien im Rahmen des BMBF geförderten FONA-Programms (Forschung für Nachhaltigkeit) zusammen, zunächst in CARBIOCIAL und nun in PRODIGY.

Wir arbeiten von Anfang an mit den Forschungspartnerinnen und -partnern in der Region zusammen. Ohne deren Kooperation könnten wir unsere Forschung nicht betreiben: Sie führen uns an wichtige Orte, lassen uns an ihrem Wissen teilhaben, von ihnen lernen wir, wie die Menschen ihre Umwelt wahrnehmen. Für eine solche Zusammenarbeit ist Vertrauen wichtig – das aufzubauen, braucht Zeit. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit aber ist die Grundlage für transdisziplinäres Arbeiten und gemeinsame Wissensproduktion.

In unserem Projekt arbeiten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus rund 12 Disziplinen zusammen: etwa aus der Bodenkunde, Genetik, physischen Geografie, Ökologie, Botanik, Umweltökonomie, Umweltmodellierung, Anthropologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Konfliktforschung und Klimaforschung. Nur so können die komplexen Zusammenhänge der Grenzen ökologischer und gesellschaftlicher Tragfähigkeit dokumentiert und interpretiert werden.

Jedes Fach aber hat seine eigene Sprache, und selbst wenn wir dieselben Begriffe benutzen, Community etwa oder Resilienz, versteht jede Disziplin etwas anderes darunter. Sich über Fachgrenzen verständigen zu können und die verschiedenen Perspektiven zusammenzuführen, als Forschungsteam zusammenzuwachsen – all das braucht Zeit.

Schließlich bilden wir in der Region Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler aus: In den vergangenen Jahren haben wir dafür den spanisch-, englisch- und portugiesisch-sprachigen Postgraduiertenstudiengang „The PRODIGY-postgrad-Course“ aufgebaut, in dem Studierende aus verschiedenen Bildungssystemen weltweit zusammenkommen. Wir lehren dort, wissenschaftlich-ethisch zu Mensch-Umwelt-Beziehungen zu arbeiten: Dazu gehört auch, dass erhobene Forschungsdaten an die Gesellschaft zurückgegeben werden, dass die Einheimischen an Studienergebnissen teilhaben und sie für die Gestaltung ihrer Zukunft nutzen können.

Was bedeutet es für PRODIGY konkret, dass BioTip nicht mehr gefördert wird?

Marianne Braig: Dass die produktivste Phase, die, in der die Ergebnisse aus vielen Jahren Forschungsarbeit ausgewertet und interpretiert werden sollen, wegfällt. Dass die Verflechtungen zwischen den Forschenden, der Transfer in die Gesellschaft, der Dialog mit den Menschen vor Ort abgeschnitten werden. Dass über Jahre aufgebaute Strukturen in der Region, auch in der Ausbildung von Nachwuchskräften, infrage stehen.

Welche Signale sendet die Politik mit dem Förderstopp?

Marianne Braig: Ich habe so etwas als Wissenschaftlerin noch nicht erlebt. Dass ein Antrag nicht bewilligt wird, natürlich, das ist ganz normal. Aber dass eine Förderlinie mitten im Verfahren beendet wird, mit dem Argument, dass man jetzt „neue Schwerpunktsetzungen“ verfolge, das untergräbt ein unhinterfragtes Vertrauen zwischen den Institutionen. Man muss bei einem für einen bestimmten Zeitraum bewilligten Projekt doch von Rechts- und Verfahrenssicherheit ausgehen können – schließlich haben wir in der Wissenschaft auch eine Verantwortung gegenüber der Bevölkerung und unseren Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern. Wir hatten mit dem BMBF bisher eine sehr vertrauensvolle Zusammenarbeit und einen produktiven Austausch. Als Wissenschaftlerin bin ich irritiert.

Mit welcher Begründung wurde die Finanzierung gestoppt? Muss wegen des Ukraine-Krieges gespart werden?

Regine Schöneberg: Das steht wohl nicht im Vordergrund. Begründet wird der Förderstopp – uns liegt ein Schreiben des BMBF an das Deutsche Institut für Luft- und Raumfahrt vor, einen der Projektträger und Drittmittelgeber – mit „aktuell geringeren zur Verfügung stehenden Haushaltsmitteln und neuen Schwerpunktsetzungen hin zu Forschungsaktivitäten, die einen schnellen Impact erzeugen“. Das Geld fließt in die „DATI“…

… die „Deutsche Agentur für Transfer und Innovation“ – eine neu gegründete Transferagentur, die Hochschulen für angewandte Wissenschaften und kleine und mittlere Universitäten unterstützen und sogenannte Innovationsökosysteme schaffen soll – gemeint sind Verbindungen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft in Deutschland.

Marianne Braig: Aber was ist „schneller Impact“ …

… also die Erwartung, dass sich Forschung kurzfristig auszahlen und in der Gesellschaft ankommen muss …

Marianne Braig: … wonach bemisst er sich? Und ist er nachhaltig? Als Wissenschaftlerin erwarte ich von einem Ministerium für Forschung eine wissenschaftsgeleitete Argumentation – die Aussage, „schnellen Impact“ fördern zu wollen, ist aber angesichts der kritischen wissenschaftlichen Debatte darum keine angemessene Begründung.

Und: Ist es effizient, ein Projekt vor der Transferphase abzubrechen, wodurch sich die erfolgte Grundlagenforschung gar nicht auszahlen kann? Neben dem finanziellen Aspekt sind es die Strukturen und das Vertrauen, die über Jahre zwischen Institutionen, Wissenschaftler*innen und der betroffenen Bevölkerung aufgebaut worden sind, die nun in Gefahr sind. Der Abbau geht rasch vonstatten, der Aufbau aber dauert Jahrzehnte.

Warum sollte die Arbeit im Rahmen von PRODIGY weitergeführt werden?

Regine Schönenberg: Das Amazonasgebiet ist ein entscheidender Klimakipppunkt, deshalb ist es so wichtig, dass dazu und dort geforscht wird. Und zwar im Dialog mit den Einheimischen. PRODIGY ist das einzige Projekt aus Deutschland, das in der Region arbeitet. Wir forschen in drei der größten Schutzgebiete im Amazonasgebiet, da, wo der Regen für den ganzen Kontinent „gemacht“ wird. Jetzt wollten wir die Ergebnisse an die Politik und die dort lebende Bevölkerung zurückgeben und international bekanntmachen.

Marianne Braig: Das ist ja der Ansatz der Weltgemeinschaft: Klimapolitik global zu verstehen. Und was klimapolitisch im Amazonasgebiet passiert, hat globale Auswirkungen. Der finanzielle Posten, um den es bei dem Förderstopp geht, mag vielleicht kalkulierbar sein und irgendwie aufzufangen. Aber der politische Effekt – sowohl auf der lokalen als auch der internationalen Ebene – ist schädlich.

Wie verhält sich die Freie Universität als betroffene Institution?

Marianne Braig: Wir sammeln jetzt erst einmal, ob es innerhalb der Freien Universität weitere Hinweise auf Förderstopps durch das BMBF gibt. Dann tauschen wir uns mit unseren U15-Partnern aus – 14 der U15-Partner sind mit Einzelprojekten an BioTip beteiligt.

Ist es denkbar, dass das eine grundsätzliche Wende in der Förderpolitik des BMBF ist?

Marianne Braig: Das hoffe ich nicht. Denn die Förderpolitik der vergangenen 20 Jahre hat Deutschlands Forschung in der Welt sehr sichtbar gemacht. Auch, weil sie Strukturen aufgebaut und ermöglicht hat zwischen Einrichtungen und Wissenschaftler*innen weltweit. Darum beneiden uns viele. Die Förderpolitik hat Vertrauen geschaffen. Eine Wende wäre tatsächlich ein Kipppunkt: Er scheint harmlos zu sein, kann aber größte Auswirkungen haben. Vertrauen ist ein hohes Gut.

Sie haben im Juni einen offenen Brief gegen den Förderstopp verfasst, Frau Schönenberg, den inzwischen mehr als 100 beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterzeichnet haben – gibt es schon eine Antwort aus dem BMBF?

Regine Schönenberg: Nein, bis heute nicht.

Die Fragen stellte Christine Boldt