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„Der Krieg verändert alles“

Postsowjetische Literatur: Der Exzellenzcluster „Temporal Communities“ ist mit einer Veranstaltungsreihe vom 9. bis 11. September beim 22. Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb) präsent

07.09.2022

Die ukrainische Autorin und Fotografin Yevgenia Belorusets ist derzeit zu Gast als „Dorothea Schlegel Artist in Residence“ des Clusters Temporal Communities.

Die ukrainische Autorin und Fotografin Yevgenia Belorusets ist derzeit zu Gast als „Dorothea Schlegel Artist in Residence“ des Clusters Temporal Communities.
Bildquelle: Olga Tsybulska

Als Titel und Thema der diesjährigen Veranstaltungsreihe des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ festgelegt wurden, hatte der russische Angriff auf die Ukraine noch nicht begonnen. Schon damals im Januar 2022 sei sie zögerlich gewesen, sagt Susanne Frank, Professorin für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ der Freien Universität Berlin: „Postsoviet Cosmopolis“. Der schillernde, assoziationsreiche Titel ist der Name ihres Forschungsprojekts am Cluster, der so Inspiration wurde für eine aktuelle Reihe beim diesjährigen Internationalen Literaturfestival Berlin (ilb).

In ihrem Forschungsvorhaben arbeitet Susanne Frank zur Literaturpolitik der Sowjetunion, im Rahmen derer unter der Führung der russischen Literatur eine Hierarchie der Nationen etabliert wurde und nichtrussische Autorinnen und Autoren vor allem auch ihre jeweilige Nation repräsentieren sollten. „Unter der Prämisse der Kontinuität imperialer Machtverhältnisse sowie eines auf die Romantik zurückgehenden Nationsbegriffs werden Entwicklungen der vor- und nachsowjetischen Zeit betrachtet, die die Literaturen dieses vielsprachigen Raums über einen Zeitraum von 200 Jahren verbinden“, sagt sie.

Effekte der sowjetischen Literaturpolitik wirken bis heute nach

Da Literatur ein wichtiges Instrument sowohl der politischen Erziehung als auch der Nationalitätenpolitik war, sei es auch in historischer Perspektive „unmöglich, literaturwissenschaftliche Fragestellungen von der politischen Situation zu trennen.“ Für sie sei der Begriff „postsowjetisch“ ein „literaturwissenschaftliches analytisches Instrument“, mit dem die – gewollten und ungewollten – Effekte der sowjetischen Literaturpolitik auch nach 1991 erforscht werden. Es sollte jedoch nicht als „Label“ für die vielen Schriftstellerinnen oder Lyriker dienen, die dieses Jahr mit Lesungen und Diskussion in Berlin zu Gast sind. Durch den Krieg ist die Situation noch einmal komplizierter geworden.

Susanne Frank ist Professorin für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ der Freien Universität.

Susanne Frank ist Professorin für Slawistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Exzellenzclusters „Temporal Communities“ der Freien Universität.
Bildquelle: privat

Daher hat sie neben dem umfangreichen Programm auf dem ilb von insgesamt sieben Veranstaltungen gemeinsam mit der ukrainischen Autorin und Fotografin Yevgenia Belorusets, die derzeit als „Dorothea Schlegel Artist in Residence“ zu Gast im Cluster ist, einen internen Workshop organisiert. Unter dem Titel „Friedhof der Kunstprojekte“ möchten sie der Kunst, den Künstlerinnen und Künstlern einen Freiraum jenseits der Bühne verschaffen: „Wir haben den Titel ausgewählt, weil wir den Eindruck hatten, dass der Krieg die Geschichte teilt. Es entsteht ein Vorher und ein Nachher. Wir wollen über die Kunst reden, die im Vorgefühl des Krieges entstanden ist, auf eine Weise und mit einer Freiheit, die der Krieg verunmöglicht hat“, sagt Yevgenia Belorusets. „Der Krieg ändert alles.“

In einem geschützen Raum das Gespräch fortsetzen oder neu beginnen

Seit Beginn des Krieges führt sie ein Tagebuch, fotografiert und schreibt. Unter dem Titel „Anfang des Krieges“ wird es im Oktober als Buch erscheinen, am 9. September wird sie auf dem ilb erstmals daraus lesen. Beim Workshop gehe es darum, in einem alternativen Raum „über Grenzen, die durch den Krieg als unüberschreitbar erscheinen, ein Gespräch fortzusetzen oder neu zu beginnen“, sagt Susanne Frank. Wie schwer das ist, versucht Yevgenia Belorusets so zu beschreiben: „Es entstehen viele Zonen des Schweigens, weil es keine Worte gibt, um zu beschreiben, was passiert. Wir wollen uns – ich spreche hier als Künstlerin ­ ­– am Rande des Schweigens einfinden und zuhören und nicht versuchen, diese Wunde zu heilen. Der Krieg läuft weiter, da kann man in diesem Moment nichts heilen.“

Die vielen Fragen, die sich aus dem Titel „Postsoviet Cosmopolis“ vor dem Hintergrund des Kriegsgeschehens stellen, sind Thema einer öffentlichen Podiumsdiskussion zum Auftakt der Reihe am 9. September. Hier diskutieren Yevgenia Belorusets und Susanne Frank mit der aus Belarus stammenden und in Berlin lebenden Journalistin Ljubou Kaspjarowitsch, moderiert von der Autorin Kateryna Mishchenko, Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Neben dem Begriff des „Postsowjetischen“ geht es auch um das Echo der Geschichte(n). Mit dem diesjährigen Programm setzt der Exzellenzcluster „Temporal Communities“ seine Veranstaltungsreihe „Echo. Echo“ in Kooperation mit dem ilb fort, in der Literatur als Echoraum vielfältiger Stimmen begriffen wird. Im vergangenen Jahr standen Gedichte und Prosa indigener Autorinnen und Autoren im Mittelpunkt.

Vielsprachigkeit und Vielfalt des gemeinsamen Sprachraums sind bei der „Poetry Night“ zu erleben. Lyrikerinnen und Lyriker aus Lettland, Litauen und Belarus lesen aus ihren Werken. Mit dabei sind etwa Semjon Hanin, Gründungsmitglied eines russischsprachigen Künstlerkollektivs in Lettland, und Eugenijus Ališanka, in Sibirien in der Verbannung geboren und mit seinen Eltern erst später nach Vilnius gezogen.

Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Karolina Golimowska lehrt an der Freien Universität und hat den Poetry Night“-Abend kuratiert.

Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Karolina Golimowska lehrt an der Freien Universität und hat den Poetry Night“-Abend kuratiert.
Bildquelle: Lotte Ostermann

Lyrik öffnet Türen in eine vielsprachige Region

„Gedichte sind eine hervorragende Möglichkeit, diese Region kennenzulernen“, sagt Karolina Golimowska. Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin, die auch an der Freien Universität Berlin lehrt, hat den Abend kuratiert und die Moderation übernommen. Da sie selbst im ehemaligen Ostblock aufgewachsen sei, kenne sie das große Interesse der Menschen an Ländern des Westens gut: „Sie wissen in der Regel viel mehr über den Westen als Menschen im Westen über den Osten.“ Nun sei es Zeit, die Perspektive umzudrehen und nach Osten zu blicken, um ihn besser zu verstehen.

Sie zitiert die Lyrikerin, Schriftstellerin und Dramatikerin Volha Hapeyeva, die, in Minsk geboren, auf Belarussisch schreibt, aber auch eine Zeit lang in Vilnius lebte: „Lyrik bringt uns Empathie bei.“ Auch sie wird bei der „Poetry Night“ aus ihren Werken lesen, in denen sie sich mit Machtstrukturen in der Sprache beschäftigt. Literatur und Politik, sie lassen sich nicht trennen, schon gar nicht in Zeiten des Krieges.

Nina Diezemann

Was erzählen Bücher über den Zustand der Welt: Plakat zur diesjährigen Reihe in Anlehnung an das Festivalplakat.

Was erzählen Bücher über den Zustand der Welt: Plakat zur diesjährigen Reihe in Anlehnung an das Festivalplakat.
Bildquelle: Temporal Communities / ilb

Das Programm des Exzellenzclusters „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“:

Freitag, 9. September, Beginn um 18 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – Yevgenia Belorusets: Anfang des Krieges. Tagebücher aus Kiew

  • Die ukrainische Fotografin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets erlebte den russischen Angriff auf die Ukraine vom Beginn bis zu ihrer Ausreise nach Deutschland im April 2022. Tagsüber war sie in den Straßen von Kiew unterwegs und dokumentierte den Alltag der Menschen mit Fotos und einem Tagebuch.
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßigt sechs Euro)
  • Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin

Freitag, 9. September, Beginn um 20 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – Eröffnungspanel mit Yevgenia Belorusets, Susanne Frank und Öjubou Kaspjarowitsch

  • Was heißt es, vom „Postsowjetischen“ zu sprechen? Wie entkommt eine junge Generation dem Echo vorangegangener Geschichten? Mit diesen Fragen befasst sich die Fotografin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets in ihren Arbeiten. Zum Auftakt der Reihe „Post-Sovjet Cosmopolis“ diskutieren die Fotografin und Schriftstellerin Yevgenia Belorusets, die Journalistin Ljubou Kaspjarowitsch und Susanne Frank, Professorin für ostslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität zu Berlin und Mitglied des Clusters „Temporal Communities“.
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßigt sechs Euro)
  • Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin

Samstag, 10. September, Beginn um 16 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – Russia: Toxic Homeland

  • Die russischen Schriftsteller Sergej Lebedew und Boris Akunin sprechen über Narrative toxischer Heimat sowie über Boris Akunins Projekt „True Russia“, das als Reaktion auf den russischen Angriffskrieg 2022 und aus Solidarität mit der Ukraine entstanden ist.
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßigt sechs Euro)
  • Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin

Samstag, 10. September, Beginn um 20 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – Poetry Night. 
Mit Semjon Hanin, Volha Hapeyeva, Eugenijus Ališanka

  • Die drei Lyrikerinnen und Lyriker Semjon Hanin, Volha Hapeyeva und Eugenijus Ališanka lesen aus ihren aktuellen Gedichtbänden. Schauspielerinnen und Schauspieler tragen die deutschen Übersetzungen vor, jeweils gefolgt von einem kurzen Gespräch mit der Kuratorin und Moderatorin des Abends, Karolina Golimowska, die an der Freien Universität Berlin lehrt.
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßig sechs Euro)
  • Haus der Berliner Festspiele, Schaperstraße 24, 10719 Berlin
  • Die Veranstaltung wird zusätzlich als Livestream übertragen.

Sonntag, 11. September, Beginn um 16 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – Constructing Post-Soviet Childhood. 
Mit Volha Hapeyeva und Lea Ypi (live zugeschaltet)

  • Der erste Roman „Camel Travel“ der bekannten belarussischen Lyrikerin Volha Hapeyeva handelt von einer Kindheit und Jugend in der Endphase der Sowjetunion. Die albanische Politikwissenschaftlerin Lea Ypi erzählt in ihrem Buch „Frei. Erwachsenwerden am Ende der Geschichte“ vom Aufwachsen in einem isolierten Land, das von Mangelwirtschaft, der Geheimpolizei und dem Proletariat geprägt ist.
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßigt sechs Euro)
  • Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin

Sonntag, 11. September, Beginn um 18 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – Generation Independence. 
Mit Jānis Joņevs und Aram Pachyan

  • Der lettische Schriftsteller Jānis Joņevs landete mit seinem Debüt „Jelgava 94“ über eine Jugend im Lettland der 1990er Jahre einen Bestseller. Der Coming-of-Age-Roman handelt von einem Jungen, der in der Provinzstadt Jelgava aufwächst, erst Nirvana, dann die Metal-Szene für sich entdeckt und auf Tauschbörsen für Musik-Kassetten und bei Konzerten in verlassenen Bunkern neue Freundschaften schließt. Der armenische Autor Aram Pachyan macht sich mit dem experimentellen Roman „P/F“ auf die Suche nach einem neuen Stil des fragmentarischen Erzählens. Das alte und das neue Jerewan, der Fluss Getar, die verschwundene Straßenbahn und ein einsamer Mann, der versucht, sich selbst in der Stadt seiner verblassenden Erinnerungen zu finden, sie alle treffen in dem Roman aufeinander. Jānis Joņevs und Aram Pachyan tauschen sich aus über das Schreiben nach der Unabhängigkeit. Beide Autoren erhielten für ihre Werke den Literaturpreis der Europäischen Union.
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßigt sechs Euro)
  • Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin

Sonntag, 11. September, Beginn um 20 Uhr
Post-Soviet Cosmopolis – In vielen Zungen sprechen: Translinguale Poesie.

  • Multimedia-Performance mit anschließender Diskussion mit Semyon Hanin, russischsprachiger Dichter in Lettland und Gründungsmitglied der zweisprachigen Poesie-Performance-Gruppe Orbita, und dem englischsprachigen Dichter Eugene Ostashevsky
  • Eintritt: zehn Euro (ermäßigt sechs Euro)
  • Collegium Hungaricum Berlin, Dorotheenstraße 12, 10117 Berlin

Das Thema postsowjetische Literaturen und Identitäten ist auch Gegenstand eines Forschungsvorhabens des Clusters „Temporal Communities“, der als bundesweit einziges literaturwissenschaftliches Verbundforschungsprojekt in der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert wird. In dem Projekt „(Post-)Soviet Literary Cosmopolis“ befassen sich Forschende unterschiedlicher geisteswissenschaftlicher Disziplinen mit Konzeptionen globaler und (multi)nationaler Literatur im sowjetischen und postsowjetischen Kontext sowie mit translingualen poetischen Dynamiken, die sich der Auseinandersetzung sowohl mit der Hegemonie des Russischen als auch mit der Parzellierung der Nationalliteraturen im (Post-)Sowjetischen Raum verdanken und im heutigen globalen literarischen und politischen Kontext besondere Aktualität gewinnen.

Die Veranstaltungsreihe „Echo Echo“

„Echo Echo“ widmet sich dem Widerhall von Stimmen und Formen in internationalen Literaturen. Die in Kooperation mit dem internationalen literaturfestival berlin konzipierte Reihe versteht Literatur als einen in sich diversen Echoraum. Eine Vielzahl von Positionen hallt im einzelnen literarischen Werk und seinen intermedialen Bezügen wieder: vorangegangene, vergessene, erinnerte, widersprechende und mitsprechende, vertextete und latente Stimmen. Zwischen Wiederholung und Varianz wird im polyphonen – und manchmal widerständigen – Echo Literatur als Verflechtung unterschiedlichster Kulturen und Zeitlichkeiten wahrnehmbar. Ziel der Reihe ist es, temporale, räumliche und mediale Resonanzen in der Gegenwartsliteratur in öffentlichkeitsorientierten Formaten sichtbar zu machen und die Forschungsschwerpunkte des Clusters im Austausch mit Autorinnen und Autoren sowie Kulturschaffenden zu präsentieren.

Exzellenzcluster „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“

Ziel des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft seit 2019 geförderten Exzellenzclusters „Temporal Communities“ ist es, die Konzeption von Literatur in globaler Perspektive neu zu vermessen. Mit dem Konzept der „Temporal Communities“ wird dabei untersucht, wie Literatur über Räume und Zeiten hinweg ausgreift – manchmal über Jahrtausende – und dabei komplexe Zeitlichkeiten und Netzwerke ausbildet und in ständigem Austausch mit anderen Künsten, Medien, Institutionen und gesellschaftlichen Phänomenen steht.

Weitere Informationen

  • Website internationales literaturfestival berlin
  • Website Exzellenzcluster „Temporal Communities: Doing Literature in a Global Perspective“