Springe direkt zu Inhalt

Schwerpunkt „Social Cohesion“: Glaube an das universelle Band des Teilens

Welche Vorstellungen von Zusammenleben haben Menschen im globalen Süden? Danach fragen Forschende im Projekt „Beyond Social Cohesion – Global Repertoires of Living Together“

26.09.2022

Familienzusammenhalt: Vor den Eid-Al-Adha-Feierlichkeiten, einem der wichtigsten muslimischen Feste, drängen sich Menschen am Bahnhof von Dhaka, Bangladesch, um sich auf den Weg in ihre Heimatdörfer zu machen

Familienzusammenhalt: Vor den Eid-Al-Adha-Feierlichkeiten, einem der wichtigsten muslimischen Feste, drängen sich Menschen am Bahnhof von Dhaka, Bangladesch, um sich auf den Weg in ihre Heimatdörfer zu machen
Bildquelle: Picture Alliance

Die Frage, wie sozialer Zusammenhalt in Krisenzeiten gesichert werden kann, beschäftigt Gesellschaften weltweit. Sie beschäftigt auch die Forschung: Mit einer Themenwoche zur Grand Challenge Initiative „Social Cohesion“ zeigt die Berlin University Alliance – der Verbund aus Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité-Universitätsmedizin Berlin – zu welchen Themen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den im Oktober 2020 gestarteten Projekten arbeiten. Lesen Sie hier über eines der Projekte, an dem die Freie Universität Berlin beteiligt ist.

„So fremd, wie es manchmal scheint“, sagt die Politikwissenschaftlerin Schirin Amir-Moazami, die an der Freien Universität als Professorin für Islam in Europa forscht, „sind die Wissensbestände des globalen Südens den Menschen in Europa gar nicht.“ Im Zuge des Kolonialismus seien schließlich Menschen aus Europa in nahezu alle Gegenden der Welt vorgedrungen. Dort setzten sie allerdings bis heute ihre eigenen Normen durch.

Das Team von RePLTIO möchte daher den Blick in seinem Forschungsprojekt „Beyond Social Cohesion – Global Repertoires of Living Together“ (RePLITO) erweitern. Wie denken und leben Menschen im globalen Süden den Begriff Gemeinschaft, wie knüpfen sie Beziehungen? Nicht nur das Zusammenleben von Menschen untereinander interessiert Schirin Amir-Moazami und ihre Kolleginnen und Kollegen aus Geistes- und Sozialwissenschaften sowie Regionalstudien von Freier Universität Berlin und Humboldt-Universität zu Berlin.

Das Team in gemeinsamer Sprecherschaft beider Universitäten interessiert sich auch für Konzepte des Zusammenlebens mit Tieren und mit Pflanzen in Ökosystemen. „Weil wir abhängig von der Natur und die Ressourcen nicht endlos sind“, sagt Schirin Amir-Moazami, „müssen wir dieses Zusammenleben gerechter gestalten.“ Klima- und Migrationskrisen zeigten: Das westlich-industrielle Modell von Wohlstand aus Ausbeutung stoße an Grenzen.

„Uns interessieren Konzepte, die aus Gesellschaften heraus entstehen, also gewissermaßen von unten kommen.“

Schirin Amir-Moazami ist Professorin für Islam in Europa am Institut für Islamwissenschaft.

Schirin Amir-Moazami ist Professorin für Islam in Europa am Institut für Islamwissenschaft.
Bildquelle: Katy Otto

Möglich macht das interdisziplinäre und universitätsübergreifende Forschungsprojekt „Global Repertoires of Living Together“ die Berlin University Alliance (BUA). Der Verbund von Freier Universität, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin fördert Forschung zu globalen Herausforderungen wie weltweiten Gesundheitsfragen.

Im Rahmen der „Grand Challenge Initiative Social Cohesion“ unterstützt die BUA das Forschungsprojekt, in dem Voraussetzungen, Dynamiken und Wirkungsweisen von sozialem Zusammenhalt untersucht werden. Die BUA-Förderung ist breit angelegt. So haben Professorin Schirin Amir-Moazami und ihre Kolleginnen und Kollegen den Freiraum, über ein ursprünglich europäisch geprägtes Grundverständnis sozialen Zusammenhalts hinaus zu denken. Diese Erweiterung des Forschungsfelds ist der Wissenschaftlerin wichtig: „Wir haben in unseren Untersuchungen zur Begriffsgeschichte von sozialem Zusammenhalt festgestellt, dass der Begriff in Europa geprägt wurde und historisch mit der Formierung und Krise des Nationalstaates zusammenfällt“, erklärt sie und fügt hinzu: „Nationalstaaten schließen qua Definition immer auch Menschen aus. Wir arbeiten daher auch mit dem Begriff des Zusammenlebens. Uns interessieren Konzepte, die aus Gesellschaften heraus entstehen, also gewissermaßen von unten kommen.“

Es sind Konzepte wie Ubuntu, eine Lebensphilosophie des südlichen Afrikas, die auf wechselseitigen Respekt und Anerkennung setzt, auf Achtung der Menschenwürde und auf das Bestreben nach einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft, aber auch auf den Glauben an ein universelles Band des Teilens, das alles Menschliche und das Menschliche mit der Natur verbindet. 

Wie die Grand Challenge Social Cohesion insgesamt, so besteht auch RePLITO aus verschiedenen, miteinander verknüpften Teilprojekten. In einem etwa untersucht die transdisziplinär arbeitende Rechtswissenschaftlerin Juliana Moreira Streva von der Freien Universität Berlin Feminismen schwarzer Frauen in Lateinamerika. Moreira Streva interessiert sich dafür, wie marginalisierte Minderheiten Ausgrenzung und Rassismus infrage stellen. Als teilnehmende Beobachterin erforscht die Wissenschaftlerin Widerstandshandlungen etwa in Form von künstlerischer Produktion wie Poesie oder Film.

Moreira Strevas stehe damit für das Bestreben vieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im RePLITO-Projekt, Menschen nicht als Objekte von Forschung zu verstehen, sondern als Partner im Prozess der Erkenntnis, sagt die Sprecherin Schirin Amir-Moazami. Konkret könne das bedeuten, Praktiken des Zusammenlebens vor Ort zu beobachten, Vertrauensverhältnisse aufzubauen, Personen zunächst erzählen zu lassen und Fragestellungen gemeinsam zu entwickeln. Sozialwissenschaftliche Fragebögen etwa entstehen so nicht in erster Linie wie üblich am Schreibtisch, sondern aus einem Erkenntnisinteresse, das die Fragen und Anliegen einbezieht.

Das Bestreben der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen im RePLITO-Projekt, über Grenzen hinaus zu denken, zeigt sich auch an innovativen Publikationsformen: Moreira Streva beispielsweise hat ihre Eindrücke und Zwischenergebnisse unter anderem in einem Film verarbeitet. Ganz an klassischen Publikationformen wie Sammelbänden kommen aber auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von RePLITO nicht vorbei. Über die Teilprojekte hinausweisende Forschungsergebnisse sollen bis Ende 2023 vorliegen.

Weitere Informationen

Weitere Informationen zur Themenwoche Social Cohesion.