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100 Tage Ampelkoalition: Landwirtschaftspolitik in Zeiten des Ukraine-Krieges

Ernährungssicherheit statt Klimaschutz? Ein Interview mit Lea Zentgraf und Federico Masson, die in der Nachwuchsforschungsgruppe „Food for Justice“ der Freien Universität promovieren

23.03.2022

Wegen ihrer fruchtbaren Schwarzerde ist die Ukraine einer der wichtigsten Weizenexporteure der Welt. Der Krieg könnte jetzt dazu führen, dass Millionen von Menschen nicht genügend zu essen haben.

Wegen ihrer fruchtbaren Schwarzerde ist die Ukraine einer der wichtigsten Weizenexporteure der Welt. Der Krieg könnte jetzt dazu führen, dass Millionen von Menschen nicht genügend zu essen haben.
Bildquelle: UN Women/David Snyder

Ernährung ist schon lange ein Politikum: Was isst man? Wie wurde es angebaut oder produziert? Zu welchem Preis? Wie steht es um Lieferketten und Transportwege? Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion sind global aufgestellt und milliardenschwer. Bei aller Effizienz gibt es noch immer sehr viel Hunger auf der Welt. Dazu kommen Umweltschäden, als Preis für die Effizienz.

Die Frage, wie sich ein soziales, ökologisches und gerechtes Nahrungsmittelsystem gestalten lässt, steht bei der Arbeit der Nachwuchsforschungsgruppe „Food for Justice“ im Mittelpunkt. Um Antworten zu finden, untersuchen die Doktorandin Lea Zentgraf und der Doktorand Federico Masson soziale Bewegungen, die sich für eine Agrar- und Ernährungswende einsetzen.

Im Interview erklären die Soziologin und der Sozialanthropologe, wie die Ampel-Regierung in ihren ersten 100 Tagen auf die Forderungen von Umwelt-, Natur- und Tierschutzverbänden reagiert – und welche Folgen der Krieg in der Ukraine für die deutsche Agrarpolitik hat.

Lea Zentgraf

Lea Zentgraf
Bildquelle: Privat

Frau Zentgraf, Herr Masson, Russland und die Ukraine sind wesentliche Getreide-Exporteure. Fallen ihre Lieferungen aus, bedroht das die Versorgung in einigen der ärmsten Regionen der Welt. Müssen jetzt Natur- und Klimaschutz und die Pläne der Ampel-Koalition hintangestellt werden, um Hungersnöte zu verhindern?

Federico Masson: Die Preise für Getreide steigen durch den russischen Angriffskrieg weltweit, besonders für Weizen und Mais werden große Ausfälle erwartet. Einige Länder des Globalen Südens haben bereits jetzt mit Versorgungsengpässen zu kämpfen. Hinzu kommt, was in den Sozialwissenschaften eine Vielfachkrise genannt wird: die Krise des Klimas, der Biodiversität, der Böden. Diese zusammenhängenden, sich wechselseitig beeinflussenden Krisen bedrohen ebenso die globale Ernährungssicherheit wie die geopolitische Krise in der Ukraine.

Der Krieg darf aber nicht gegen den Klimaschutz „ausgespielt“ werden. Der neue Bericht des IPCC-Klimarats zeigt, wie fatal eine Abkehr vom Green Deal wäre. Darum wäre es auch ein Fehler, ökologische Prioritäten zugunsten einer ungezügelten Produktion hintanzustellen.

Federico Masson

Federico Masson
Bildquelle: Privat

Lea Zentgraf: Der Krieg in der Ukraine zeigt deutlich die verletzlichen Stellen des deutschen und europäischen Agrarsystems: Die Abhängigkeit von synthetischem Dünger, der aus russischem Gas hergestellt wird, untergräbt die Ernährungssicherheit Europas. Ebenso ist die Tierhaltung in Deutschland massiv auf Importe von Getreide und Ölsaaten angewiesen. Soziale Bewegungen fordern schon lange die Transformation hin zu Nachhaltigkeit und Ernährungsgerechtigkeit. Und sie schlagen konkret vor, mehr Agrarökologie anzuwenden, die hohen Abhängigkeiten von Im- und Exporten zu reduzieren und regionale Versorgungsstrukturen zu stärken. Denn das sichert eine nachhaltige und krisenresiliente Lebensmittelversorgung.

Ende März findet in Magdeburg die Agrarministerkonferenz von Bund und Ländern statt. Welche Entscheidungen sind vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges von dem Treffen zu erwarten?

Federico Masson: Ohne Zweifel werden die Kriegsfolgen für die deutsche Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit eine übergeordnete Rolle spielen. Es ist aber schwer einzuschätzen, welche konkreten Entscheidungen getroffen werden. Klar ist, dass es Entlastungen für die Landwirtschaft geben soll, was meistens bedeutet: weniger Umwelt- und Klimaschutz. Zum Beispiel dürfen Landwirtinnen und Landwirte in diesem Jahr ausnahmsweise die Pflanzen auf ökologischen Vorrangflächen als Tierfutter nutzen.

Aktuelle Herausforderungen für die Landwirtschaft in Deutschland sind vor allem die hohen Energiekosten und Engpässe auf dem Futtermittelmarkt. Beides sorgt für steigende Lebensmittelpreise. Besonders die befürchteten Ausfälle von Ölsaaten und Eiweißpflanzen aus der Ukraine bereiten Sorgen. Wie Landwirtschaftsminister Cem Özdemir aber betont hat, droht in Deutschland keine Versorgungsnot der Bevölkerung, denn bei den betroffenen landwirtschaftlichen Sektoren handelt es sich vor allem um die deutsche Tierindustrie für den Export.

Aufstand der Satten: Demonstranten fordern von der Regierung eine Umkehr in der Agrar- und Ernährungspolitik.

Aufstand der Satten: Demonstranten fordern von der Regierung eine Umkehr in der Agrar- und Ernährungspolitik.
Bildquelle: Lea Zentgraf

Im Januar sind Bäuerinnen und Bauern zum zwölften Mal in Folge mir ihren Treckern zur „Wir haben es satt“-Demonstration nach Berlin gefahren, um mit dem Bündnis „Meine Landwirtschaft“ für eine sozial gerechte, umwelt- und klimaschonende Landwirtschaft zu demonstrieren. Für die Nachwuchsforschungsgruppe „Food for Justice“ haben Sie Menschen befragt, die an der Demonstration teilgenommen haben. Was haben Sie dabei herausgefunden?

Lea Zentgraf: In Deutschland ist das Bündnis „Meine Landwirtschaft“ die größte Koalition von sozialen Bewegungen rund um das Thema Essen und deswegen besonders relevant für unsere Forschungsgruppe. Bei vielen Aktionen des Bündnisses waren wir auch als teilnehmende Beobachterinnen und Beobachter dabei. 2020 haben wir eine erste repräsentative Protestumfrage durchgeführt.

Die Ergebnisse zeigen, dass viele der Befragten hoffen, mit der eigenen Lebensweise etwas zu verändern. So gaben 80 Prozent an, gezielt Produkte aus politischen oder ökologischen Gründen zu kaufen. Mehr als die Hälfte hat ihre Ernährung umgestellt, um das Klima zu verbessern. Darüber hinaus fordern die Demonstrantinnen und Demonstranten aber eine Agrar- und Ernährungswende auf politischer und nicht nur auf konsumorientierter Ebene. Ein tiefgreifender, gesellschaftlicher Wandel kann nicht allein durch individuelle Kaufentscheidungen erreicht werden, denn das würde ökonomische Ungleichheiten einfach ausblenden.

In den vergangenen beiden Jahren waren wegen der Corona-Maßnahmen die sonst großen „Wir sind satt“-Straßenproteste nicht möglich. Das Bündnis ist dennoch mit Traktoren und alternativen Protestaktionen in Berlin aufgetreten. Außerdem wurde in diesem Jahr zum digitalen Protest aufgerufen. Die Aktion hieß „Staffel-Lauch“. Die Idee: kurze Videobotschaften mit den Forderungen für eine Agrar- und Ernährungswende aufzuzeichnen. Das kreative Element war eine Stange Lauch, die als Staffelstab symbolisch weitergegeben wurde. Das Ergebnis: Mehr als 1500 Videobotschaften wurden eingeschickt. Außerdem wurde am 22. Januar Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ein mit QR-Code bedruckter Lauch übergeben.

Seit 2011 finden die „Wir sind satt“-Demonstrationen statt. Cem Özdemir (mit Lauch und Mikrofon) ist der erste Landwirtschaftsminister, der sich den Protestierenden stellt.

Seit 2011 finden die „Wir sind satt“-Demonstrationen statt. Cem Özdemir (mit Lauch und Mikrofon) ist der erste Landwirtschaftsminister, der sich den Protestierenden stellt.
Bildquelle: Lea Zentgraf

Mehr Ökolandbau, mehr Tierwohl – weg von Massentierhaltung und ausgelaugten Böden. Das hat sich die neue Regierung als Ziel gesetzt. Nun ist die Ampelkoalition 100 Tage im Amt – welche Bilanz ziehen Sie mit Blick auf die Agrarpolitik?

Lea Zentgraf: Der Koalitionsvertrag der Ampel hat viel Potenzial für eine tatsächliche Agrar- und Ernährungsreform. Für viele Aktivistinnen und Aktivisten sowie Landwirtinnen und -wirte war es allerdings eine Enttäuschung, dass die Empfehlungen der Zukunftskommission Landwirtschaft und der Borchert-Kommission im Koalitionsvertrag nicht auftauchen.

Das Ziel von bis zu 30 Prozent Ökolandbau bis 2030 ist ambitioniert, konkrete Konzepte zur Umsetzung wurden bisher keine vorgelegt. Im Bereich Tierwohl will die Koalition noch im Laufe dieses Jahres eine verbindliche Haltungskennzeichnung einführen. Wie der Umbau der Tierhaltung genau stattfinden soll, bleibt aber auch hier noch unklar. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir beruft sich zwar immer wieder auf Ideen und Konzepte der Kommissionen, aber feststeht: Die Koalition hat in den ersten 100 Tagen keine einzige Gesetzesvorlage oder Initiative für die Agrar- und Ernährungspolitik vorgelegt.

Die Fragen stellte Sören Maahs