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Nicht vergessen

Der Historiker Martin Lücke erforscht die Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus und die Debatten über Gedenkinitiativen, mit denen an sie erinnert werden soll

20.04.2023

Eine von Petra Abel gestaltete Gedenkkugel ist den verfolgten und ermordeten lesbischen Frauen und Mädchen in Ravensbrück gewidmet.

Eine von Petra Abel gestaltete Gedenkkugel ist den verfolgten und ermordeten lesbischen Frauen und Mädchen in Ravensbrück gewidmet.
Bildquelle: Wikimedia / Zartesbitter Creative Commons 4.0

Es geht doch nur um ein Wort, könnte man meinen. Aber was, wenn das Wort darüber entscheidet, wer sichtbar ist und wer nicht? Was, wenn das Wort darüber mitbestimmt, wessen Schicksal als erinnerungswürdig erscheint, und wer – nach der Vernichtung – noch ein zweites Mal stirbt, weil er oder sie in Vergessenheit gerät?

Die Frage, um die es hier geht, ist diese: Waren lesbische Frauen im Nationalsozialismus „Verfolgung“ ausgesetzt? Als Laie könnte man denken: Ja, aber sicher doch. Wer sich in Deutschland zwischen 1933 und 1945 öffentlich als lesbische Frau zu erkennen gab und auch offen so lebte, wurde gedemütigt, eingeschüchtert, angeklagt, verurteilt, in Haftanstalten oder Konzentrationslagern eingesperrt oder ermordet. Dass der Umgang mit lesbischen Frauen also als „Verfolgung“ zu bezeichnen ist, liegt doch demnach auf der Hand.

„Bei den Debatten über die Errichtung eines Erinnerungszeichens an lesbische Verfolgung zeigen sich Mechanismen einer Unterdrückung durch Unsichtbarmachen.“ Martin Lücke, Historiker

Gewiss, sagt Martin Lücke. Dass es darüber trotzdem eine Debatte unter Historikerinnen und Historikern gibt, erklärt Lücke damit, dass es in der geschichtswissenschaftlichen Erforschung der Verfolgung von lesbischen Frauen während der NS-Zeit eine Schwierigkeit gebe. Diese sei nicht so leicht zu fassen, wie das etwa bei der Verfolgung schwuler Männer der Fall war: Letztere war im Paragraf 175 des Strafgesetzbuches klar ausgesprochen, mit dem schwule Sexualität kriminalisiert wurde. Und dies setzte sich nach dem Ende des Nationalsozialismus fort, dauerte an bis in die jüngere Zeit: Paragraf 175 wurde erst 1969 entschärft und schließlich 1994 endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen.

Einseitige Fokussierung

Dass lesbische Frauen in Paragraf 175 nicht vorkamen, lag nicht daran, dass die Nazis sie nicht auch verfolgen wollten, sondern an dem Umstand, dass man die Sexualität der Frauen noch geringer schätzte als diejenige schwuler Männer beziehungsweise, dass man von Penetration als Sexualität im engeren Sinne ausging. Dies habe dazu geführt, sagt Lücke, dass sich die Geschichtswissenschaft lange einseitig auf die Verfolgung schwuler Männer konzentriert hat. Weil diese auf eindeutigen Rechtsgrundlagen beruhte, hinterließ sie mehr archivalische Spuren und war so leichter erforschbar.

Geändert habe sich dies erst, als Historikerinnen wie Claudia Schoppmann und Christiane Leidinger begonnen hätten, dies zu hinterfragen: Sie erforschten, ob die Diskriminierung lesbischer Frauen ebenfalls als Verfolgung zu fassen sei. Denn rechtlich und mit polizeilichen Mitteln drangsaliert wurden lesbische Frauen durchaus, wenn auch oft zum Beispiel über die allgemeinere Kategorie der „Asozialität“ oder über die Bestrafung von Handlungen, die dem vagen Begriff des sogenannten gesunden Volksempfindens zuwiderliefen.

Martin Lücke veröffentlichte dazu einen Aufsatz, in dem er sich mit den Debatten über die Geschichte lesbischer Frauen im Nationalsozialismus und mit dem Erinnern an ihre Geschichten befasst. Exemplarisch erwähnt er Frauen, die im Konzentrationslager Ravensbrück interniert waren, einige von ihnen wurden getötet. Sie mussten nicht wie homosexuelle Männer einen rosa Winkel tragen, sondern wurden anderen Häftlingsgruppen zugeordnet. Das erschwere es der Forschung, ihre Schicksale zu dokumentieren und in ihrer Gesamtheit zu erfassen, sagt Lücke.

Der Wissenschaftler argumentiert, dass dies zu einem Folgeproblem führe: Zuerst wurde ihr Lesbischsein von den Nationalsozialisten systematisch unsichtbar gemacht. Wenn sie interniert wurden, dann als „Asoziale“, „Kriminelle“ oder als „Jüdinnen“, oft eben nicht als „Lesben“. Dieses Unsichtbarmachen wurde lange Zeit von der Geschichtswissenschaft gewissermaßen reproduziert, weil lesbische Frauen auch in der Darstellung über die Verfolgung durch die Nationalsozialisten unsichtbar blieben.

Und dies wiederum führte dazu, dass sie auch in der deutschen Vergangenheitspolitik und Erinnerungskultur unsichtbar blieben. Martin Lücke schreibt dazu: „Auch bei den Debatten über die Errichtung eines Erinnerungszeichens an lesbische Verfolgung in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück zeigen sich Mechanismen einer Unterdrückung durch Unsichtbarmachen.“

Damit verweist er auf die Kontroverse, die das Anbringen einer Gedenktafel im KZ Ravensbrück ausgelöst hatte. Auf ihr war zu lesen: „Den Männern, die wegen Homosexualität 1939 bis 1945 im KZ Ravensbrück inhaftiert, geschunden und ermordet wurden“. Nun hatte gewiss niemand etwas dagegen, dass der schwulen Opfer gedacht wurde. Nur führte die Tafel, die wohl deswegen angebracht worden war, um in dem Frauen-KZ auch an die männlichen Opfer zu erinnern, indirekt dazu, dass das Schicksal der lesbischen Frauen erneut unsichtbar gemacht wurde. Oder anders gesagt: zu einer Art Konkurrenz der verschiedenen Opfergruppen untereinander.

Folgenreiche Forschung

Um dagegen zu protestieren, unternahm die „Initiative Autonome Feministische Frauen und Lesben aus Deutschland und Österreich“ eine symbolische Intervention in die Erinnerungspolitik: 2015 platzierte sie in der Gedenkstätte eine aus Ton geformte Kugel mit der Inschrift: „In Gedenken an die verfolgten und ermordeten lesbischen Frauen und Mädchen. Ihr seid nicht vergessen. 2015“. Erst die dadurch ausgelöste Debatte führte dazu, dass – gestützt auch auf ein Gutachten von Martin Lücke – die Kugel von der Gedenkstätte integriert wurde.

Die Episode zeigt, wie folgenreich die geschichtswissenschaftliche Forschung nicht nur für die Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus ist, sondern auch für das Gedenken an seine Opfer: Wer verfolgt wurde, sollte nicht von den Heutigen vergessen werden.

Dieser Artikel ist am 23.04.2023 in der Tagesspiegel-Beilage der Freien Universität Berlin erschienen.