Sprache und Denken
An der Freien Universität arbeiten Friedemann Pulvermüller und sein Team an einem neuen Gehirnmodell – mit künstlicher Intelligenz
16.02.2024
Wie lernen Kinder sprechen? Wie verbinden sich im Gehirn Begriffe mit konkreten Dingen und abstrakten Konzepten? Neugeborene haben davon noch kaum eine Vorstellung.
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Was haben Sonnenuntergänge, Augen und Gemälde gemeinsam? Nicht viel, aber wir können sie alle als schön empfinden. Doch wie kann das menschliche Gehirn überhaupt das Konzept ‚Schönheit‘ lernen, wenn schöne Dinge so unterschiedlich sind? Das untersucht die Arbeitsgruppe von Friedemann Pulvermüller, Professor für Neurowissenschaft an der Freien Universität Berlin. Neue Studien aus seinem Labor legen nahe, dass Sprache dabei eine viel größere Rolle spielt als bisher angenommen.
„Wir wissen inzwischen sehr gut, welche Hirnareale bei der Sprachverarbeitung aktiv sind“, sagt Friedemann Pulvermüller, Leiter des Labors für Gehirn- und Sprachforschung an der Freien Universität Berlin. Die Schlüsselfrage sei jetzt: „Wie arbeiten Gruppen von Nervenzellen zusammen, um Sprache und Verständnis zu ermöglichen?“ Ein großer Schritt gelang dem Team des Forschers nun mit einem neuronalen Modell. Dieses ahmt mithilfe künstlicher Intelligenz wichtige Lernstrukturen und -prozesse des menschlichen Gehirns nach, die für begriffliches Denken und Sprache wichtig und notwendig sind. Damit lassen sich Theorien zur Sprache und Kognition unter realitätsnahen Bedingungen testen.
Simulierte Gehirnareale
Man verstehe etwas erst dann, wenn man es nachbauen könne, erläutert der Neurowissenschaftler mit Blick auf die Strategie hinter dem Vorgehen. Das neue Gehirnmodell umfasse deshalb computergesteuerte Vorrichtungen, die den humanen Nervenzellen (Neuronen) ähnlich sind. Es ist ein Netzwerk, das zwölf Gehirnareale simuliert, die für Wahrnehmung, Motorik, Handeln und Sprachverarbeitung wichtig sind: unter anderem die visuellen und akustischen Systeme, die handmotorischen und artikulatorischen Bereiche sowie stark vernetzte Areale, die mit diesen Systemen Informationen austauschen. Auch die Verbindungsstruktur zwischen diesen Arealen ist der Großhirnrinde des Menschen nachgebaut worden. Die etwa 20 000 programmierten künstlichen Neuronen des Modells simulieren die Zusammenarbeit von Nervenzellen des menschlichen Großhirns, von denen es allerdings circa zehn Milliarden gibt. Obwohl das Modell deshalb relativ „klein“ ist, soll es wichtige Funktionsprinzipien des menschlichen Gehirns aufzeigen, die Denken und Sprachgebrauch bestimmen.
Friedemann Pulvermüller ist Professor für Neurowissenschaft der Sprache und Pragmatik und leitet das Labor für Sprach- und Gehirnforschung.
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„Wir bringen unserem Netzwerk Konzepte und Symbole bei und untersuchen dann die neuronalen Verbindungen und Aktivierungsmuster, die sich im Netzwerkmodell ausbilden“, erklärt Friedemann Pulvermüller. Hierbei spiele ein Lernmechanismus eine ganz wichtige Rolle, nach dem starke Verbindungen zwischen Neuronen aufgebaut werden, die oft gemeinsam aktiviert sind und korreliert feuern.
Soll etwa der Begriff AUGE erlernt werden, werden dem Modell visuelle Informationen über das Aussehen von unterschiedlichen Augen gezeigt. Hier handelt es sich um einen konkreten Begriff, denn die meisten Augen haben ähnliche Eigenschaften: mittig runde Formen, außen geschwungene Linien, und sie befinden sich in den Gesichtern von Lebewesen. „Wir konnten nun am Modell zeigen, wie die Nervenzellen in diesem Fall zusammenarbeiten: Wenn Gegenstände wahrgenommen werden, die unter denselben konkreten Begriff fallen, so sind stets die gleichen Neuronen aktiv, die auf gemeinsame Eigenschaften der bezeichneten Objekte reagieren. Deshalb aktivieren diese Neuronen immer wieder gemeinsam und verbinden sich somit immer stärker miteinander. Eine Begriffsrepräsentation entsteht auf dem Level der Verschaltungen der Nervenzellen“. Hierzu passen auch die bekannten Tatsachen, dass Tiere in der Lage sind, konkrete Begriffe und Kategorien zu bilden und dass Babys schon bevor sie sprechen oder Sprache verstehen können, bereits konkrete begriffliche Unterscheidungen erlernen. Allerdings zeigen die Computersimulationen mit gehirnähnlichen Netzwerken auch, dass das gleichzeitige Lernen von konkreten Begriffen und Symbolen viel stärkere und besser verknüpfte Begriffsrepräsentationen bildet, als ein sprachfreies Netzwerkmodell dies vermag.
Erlernte Erfahrung
Ganz anders sei das bei abstrakten Konzepten wie „Schönheit“ oder „Demokratie“, hebt der Neurowissenschaftler hervor: „Wir empfinden Augen als schön, aber auch Sonnenuntergänge oder Gemälde. Diese haben aber nicht viel gemeinsam.“ Somit seien auch kaum Nervenzellen wiederholt gleichzeitig aktiv, wenn verschiedene Instanzen abstrakter Konzepte verarbeitet werden. Im Gegensatz zu den Instanzen der konkreten Begriffe, die ja viele Eigenschaften gemeinsam haben und deren neuronale Korrelate aus Zellen aufgebaut werden, die auf diese gemeinsamen Eigenschaften ansprechen. Aufgrund der fehlenden gemeinsamen Eigenschaften der Instanzen von Abstrakta und dem Fehlen von korreliert aktiven eigenschaftsspezifischen Neuronen kann das neuronale Modell keine Repräsentationen für Abstrakta bilden – also keine „Mini-Netzwerke“. Dies entspricht der Situation bei Tieren und Babys, die zwar konkrete Konzepte bilden können, jedoch keine abstrakten.
Besonders erstaunlich war nach Einschätzung des Wissenschaftlers nun, dass das biologisch motivierte Netzwerkmodell unter bestimmten Bedingungen doch in der Lage war, abstrakte Begriffsrepräsentationen auszubilden. Sobald beim Lernen von Beispielinstanzen wie Sonnenaufgang, Auge, Gemälde auch ein dazugehöriges Symbol gelernt werden konnte – in diesem Beispiel das Wort „schön“ –, formten sich im Modell stark gekoppelte Neuronenverbände für das bedeutungsvolle Symbol samt abstraktem Begriff. „Es könnte somit der Sprache zu verdanken sein, dass so verschiedene Dinge wie Naturphänomene und Kunstwerke unter demselben Konzept (SCHÖN) gedacht werden können“, konstatiert Friedemann Pulvermüller: „Sprache unterstützt die Konzeptbildung. Erst das Wort ‚Schönheit‘ lässt uns das Konzept wirklich begreifen.“ Dabei existierten sicherlich auch eher abstrakte Konzepte, die vor jeder Erfahrung dem Menschen einprogrammiert sind, führt er weiter aus – „man denke zum Beispiel an Gefühle wie Freude oder Angst“. Doch für viele Abstrakta seien Lernprozesse notwendig und in diesem Fall erscheine der Beitrag der Sprache zur Konzeptbildung notwendig. Erst durch Sprache könnten auch beispielsweise Personen, die in einem autokratischen Land leben, verstehen, was mit „Demokratie“ gemeint sei. „Erhielt die Gehirnsimulation eine sprachliche Grundlage für ein Konzept, konnte auch für abstrakte Begriffe die Ausbildung von stark vernetzten neuronale Korrelaten nachgewiesen werden“, erläutert der Neurowissenschaftler: Das verbale Label verbinde die begrifflichen und semantischen Informationen, auch wenn die Eindrücke, mit denen sie zusammenhängen, sehr vielfältig seien. „Die Wortrepräsentation macht den entscheidenden Unterschied“, betont er.
"Unsere Studie zeigt, dass Sprache und Denken noch stärker zusammenhängen als bisher angenommen"
Warum und aufgrund welcher Mechanismen die Sprache in dieser Weise die Begriffsbildung beeinflusst, wurde vom Forschungsteam ebenso erforscht. Hier zeigte sich, dass auch hier wieder die Lernregel, aufgrund derer sich oft gemeinsam aktive Neuronen stark miteinander verschalten, die entscheidende Rolle spielt. Ergibt sich doch, dass tatsächlich die Korrelation der Neuronenaktivierungen sehr gering ist, wenn Instanzen abstrakter Konzepte verarbeitet werden. „Beim Erlernen der Zusammenhänge zwischen Symbol und den einzelnen Instanzen abstrakter Begriffe ergeben sich jedoch höhere Korrelationswerte, die zur Repräsentationsbildung ausreichen können. Unsere Studie zeigt, dass Sprache und Denken noch stärker zusammenhängen als bisher angenommen“, konstatiert Friedemann Pulvermüller. Möglich seien die Ergebnisse auch durch die gute Zusammenarbeit über die Fachrichtungen hinweg, betont er. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Informatik, Computerlinguistik, Kognitionswissenschaft, Sprachwissenschaft und Neurobiologie gehören zu seinem Team im Labor für Gehirn- und Sprachforschung der Freien Universität Berlin. Seit 2021 wird dort im Rahmen eines vom Europäischen Forschungsrat (ERC) geförderten Advanced Grant mit dem Titel „MatCo: Material Constraints Enabling Human Cognition“ über die materiellen gehirninternen Bedingungen geforscht, die Menschen höhere kognitive Leistungen wie Konzeptbildung und Sprache ermöglichen. Das Vorhaben wird mit zweieinhalb Millionen Euro aus dem Förderprogramm für Spitzenforschung des ERC unterstützt; es erhält auch Mittel im Rahmen des ExzellenzclustersCluster „Matters of Activity“.