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Provenienzforschung: Bestattung, Repatriierung oder Aufbewahrung in der Lehrsammlung?

Eine öffentliche Seminarreihe beschäftigt sich mit der Erforschung der Herkunft von menschlichen Gebeinen, die in der Lehre eingesetzt werden

28.05.2024

Vanessa Hava Schulmann im Fundus der zoologischen Sammlung, in dem tierische Präparate lagern. Die Humanbiologin hat die Seminarreihe „Meeting them“ über menschliche Überreste in der akademischen Lehre konzipiert.

Vanessa Hava Schulmann im Fundus der zoologischen Sammlung, in dem tierische Präparate lagern. Die Humanbiologin hat die Seminarreihe „Meeting them“ über menschliche Überreste in der akademischen Lehre konzipiert.
Bildquelle: privat

In der Zoologischen Sammlung am Institut für Biologie der Freien Universität befinden sich auch menschliche Gebeine. Seit 2021 wird in einem Provenienzforschungsprojekt die Herkunft und Geschichte dieser Schädel und Knochen kritisch aufgearbeitet. In einer Seminarreihe möchte Vanessa Hava Schulmann, Humanbiologin und Leiterin des Projekts, nun mit der Öffentlichkeit ins Gespräch kommen. 

Frau Schulmann, welchen Hintergrund haben die menschlichen Gebeine in der Zoologischen Sammlung?

In der Sammlung werden rund zwanzig menschliche Schädel und fünf nahezu vollständige Skelette aufbewahrt, dazu eine Reihe von einzelnen Knochen. Sie wurden an der Freien Universität früher ganz selbstverständlich für die humanbiologische Lehre verwendet. Heute haben sich die ethischen Standards in der Wissenschaft geändert, und wir sehen den Einsatz von menschlichen Gebeinen zunehmend kritisch. 

Wir wissen in der Regel nicht, woher die Knochen stammen. Es scheint zweifelhaft, ob die Menschen ihre Einwilligung dazu gegeben haben, dass ihre sterblichen Überreste wissenschaftlich verwendet werden. Gerade in Berlin sollten wir wachsam sein, denn hier ist die Forschung historisch in besonderem Maße mit der Geschichte des Kolonialismus und des Nationalsozialismus verbunden. In diesen Kontexten wurden zahlreiche Verbrechen im Namen der Wissenschaft begangen. 

Auch wenn die Freie Universität erst im Jahr 1948 gegründet wurde, so ist sie doch Teil dieser Geschichte, weil sie Gebäude der ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (heute: Max-Planck-Gesellschaft) übernommen hat: So beherbergte zum Beispiel die Ihnestraße 22 in Dahlem, Sitz des heutigen Otto-Suhr-Instituts für Politikwissenschaft, bis 1945 das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. 

Seit 2021 bemühen wir uns daher intensiv um eine kritische Aufarbeitung der Herkunft der menschlichen Gebeine in unseren Sammlungen – und um eine ethische Debatte über ihre Geschichte und Zukunft. 

In welchem Kontext findet die Aufarbeitung statt? 

Im November 2021 haben Lehrende der Humanbiologie der Freien Universität ein eigenes Provenienzforschungsprojekt eingerichtet. Ich selbst war dort zunächst als Studentin aktiv und bin seit September vergangenen Jahres als Wissenschaftliche Mitarbeiterin mit der Leitung des Projekts betraut. Die Klärung der Herkunft der Gebeine erweist sich leider als sehr schwierig.  

Im Zuge der fortlaufenden Arbeit konnten wir bereits einen kolonialen Kontext für zwei menschliche Gebeine bestätigen. Auch hinter weiteren Knochen verbergen sich koloniale Geschichten, zum Beispiel bei den sogenannten „Lehrskeletten“, die wir an der Freien Universität aufbewahren. Es sind stehende Skelette für den Anatomieunterricht, wie man sie auch aus alten Filmen kennt. Tatsächlich handelt es sich um die sterblichen Überreste von Menschen. Sie wurden einst über den regulären Lehrmittelhandel bezogen. Der Handel mit menschlichen Gebeinen ist mit der britischen Kolonialgeschichte verwoben – weltweit bediente man sich insbesondere an menschlichen Körpern aus Indien.

Auch an der Freien Universität befinden sich Skelette aus Indien?

Ja. Die Biologie der Freien Universität hat sie von einer Firma gekauft, die menschliche Gebeine von Händlern aus Indien bezog.

Warum entwickelte sich dieser Handel gerade in Indien? 

Der Ursprung liegt in der britischen Kolonialherrschaft. Schon im 19. Jahrhundert beklagten sich die medizinischen Fakultäten in Großbritannien, dass ihnen menschliche Körper für die Anatomielehre fehlten. Europäerinnen und Europäer vermachten wegen religiöser und sozialer Tabus ihre Körper in der Regel nicht der Wissenschaft. Der Mangel an Körpern führte zu Grabraub und sogar Mord im Namen der Anatomie, weshalb es in Großbritannien gesetzliche Interventionen gab. Es fehlte weiter an Körpern für die Wissenschaft, und so wurde im kolonialen Indien eine Infrastruktur geschaffen, um an Körper zu gelangen. 

Dieser Handel existiert, wenn auch illegal, bis heute. Es handelt sich um Überreste von Menschen, die „tot aufgefunden“ oder „aus dem Fluss Ganges gezogen“ wurden. Das sind Beschreibungen, die ich von Forschenden und Lehrenden hörte. Es gibt aber auch Quellen, die Grabraub oder Entführung beschreiben. Der Export menschlicher Gebeine war in Indien bis 1985 legal. So kamen bis weit ins 20. Jahrhundert solche geraubten Körper in die internationale Wissenschaft. Und sehr wahrscheinlich eben auch an die Freie Universität.

Im Rahmen des Forschungsprojekts bieten Sie nun auch eine öffentlich zugängliche Seminarreihe an. Welche Fragestellungen wollen Sie dort diskutieren? 

Die Seminare sind offen für alle und sollen eine Grundlage bieten, um den Umgang mit menschlichen Gebeinen an unserem Institut und darüber hinaus zu diskutieren. Wir werden uns die Geschichte einzelner Gebeine intensiv ansehen. Beispielsweise die Geschichte eines präservierten Gehirns aus dem ehemaligen Anatomischen Institut. 

Zudem sind Gastvorträge geplant, die einen Einblick in die Geschichte der humanbiologischen Forschung im kolonialen Kontext geben. Israel Kaunatjike, der selbst Herero-Nachfahre ist, wird über die Geschichte des deutschen Völkermords an den Herero und Nama sprechen. Außerdem sind Mnyaka Sururu Mboro und Merel Fuchs eingeladen. Sie werden darüber sprechen, wie sich die Suche nach Vorfahren in Berliner Sammlungen gestaltet.

Welche Möglichkeiten sehen Sie für den Umgang mit den Gebeinen? 

Das ist eine sehr komplexe Frage. Die Gebeine werden am Institut für Biologie der Freien Universität schon länger nicht mehr aktiv in der Lehre verwendet. Spätestens seit Beginn des Provenienzprojektes wurden menschliche Gebeine präventiv für die Biologielehre gesperrt, da Fragen zu deren Herkunft und Einwilligung nicht ausreichend beantwortet werden konnten.

Die Frage ist jedoch, wie man weiter mit den Gebeinen umgeht. Da gibt es je nach Kontext sehr unterschiedliche Optionen, die zur Diskussion stehen, zum Beispiel Bestattung, Repatriierung, und Aufbewahrung in der Lehrsammlung mit oder ohne Verwendung in der Lehre. Sollte zum Beispiel für einen bestimmten Fall eine Bestattung denkbar sein, so wäre die Frage, nach welchem Ritus. Wissen wir genug über den Menschen, um das einschätzen zu können? Zudem verhindert eine Bestattung, dass in Zukunft vielleicht mit neuen Informationen oder Technologien mehr über die menschlichen Gebeine und deren Provenienz bekannt wird. Da müsste wiederum, besonders bei invasiven Methoden, gut abgewogen werden, ob das notwendig ist, oder ob weitere Beforschung wenig sinnvoll oder sogar unethisch wäre.

Ich selbst werde in meinem Abschlussbericht für das Provenienzforschungsprojekt Handlungsempfehlungen geben, die an das Institut für Biologie weitergereicht werden. Dort sollen auch Stimmen aus der Seminarreihe Eingang finden. Ich bin der Meinung, dass es eine Frage ist, die alle Menschen angeht und möchte daher mit möglichst vielen Menschen ins Gespräch kommen. 

Die Fragen stellte Dennis Yücel

Weitere Informationen

Die Seminarreihe „Meeting Them – Provenance Project“ ist für alle Interessierten offen und soll eine Gesprächsplattform bieten, um den Umgang mit menschlichen Gebeinen am Institut für Biologie – und darüber hinaus – zu diskutieren. Gastvorträge beleuchten die Geschichte der humanbiologischen Forschung im kolonialen Kontext und geben auch den persönlichen Geschichten hinter der Provenienzforschung Raum. Kontakt & Webex-Link: v.schulmann@fu-berlin.de

Zeit und Ort
Dienstags 17 bis 19 Uhr
Königin-Luise-Straße 1–3, Raum 110

Termine
28.05. Where did universities buy human „teaching“ skeletons?
Vanessa Hava Schulmann

04.06. Ethics in human genetics research 
Dr. Vladimir Bajić (Robert Koch Institut)

11.06. Science and the Herero & Nama genocide 
Israel Kaunatjike (Berlin Postkolonial) 

18.06. Whose preserved brain is used in FU teaching? 
Vanessa Hava Schulmann 

25.06. Mangi Meli and finding your ancestors 
Mynaka Sururu Mboro (Berlin Postkolonial) & Merel Fuchs (Decolonize Berlin e.V.) 

02.07. Soliman Al-Halabi – Who gets to tell his story? 
Guest speaker + Vanessa Hava Schulmann 

09.07. Anonymous remains – How to meet someone you know almost nothing about? 
Vanessa Hava Schulmann