Droht bei den Europawahlen ein Rechtsruck? „Es geht um die Machtoption“
Interview mit Tanja A. Börzel und Miriam Hartlapp vom Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin
07.06.2024
Vom 6. bis 9. Juni 2024 finden die Wahlen zum Europäischen Parlament statt. In Deutschland wird am 9. Juni gewählt.
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In einigen Ländern haben die Europawahlen bereits begonnen, in Deutschland wird am Sonntag abgestimmt. Viele fragen sich: Droht bei dieser Wahl ein Rechtsruck? Die Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, Professorin Tanja Börzel, und die Professorin für vergleichende Politikwissenschaft Miriam Hartlapp haben zu euroskeptischen, rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien im Europaparlament geforscht.
Frau Professorin Börzel, Sie haben im April gesagt, der künftige Einfluss der Rechtsaußen-Parteien hänge von zwei Faktoren ab: davon, wie konstruktiv sie miteinander zusammenarbeiten, und davon, ob die moderaten konservativen Parteien an der Brandmauer gegen Rechtsaußen festhalten. Seitdem hat der französische Rassemblement National unter Marine Le Pen die AfD aus der Fraktion geworfen, und die Brandmauer wurde verschoben. Wie wird sich das auf die Wahl und die Mehrheiten im nächsten EU-Parlament auswirken?
Tanja Börzel: Die Brandmauer ist nach rechts verschoben worden, wenn man so will, als die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen der rechten Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) in Gestalt ihrer Vorsitzenden Giorgia Meloni Kooperationsbereitschaft angedeutet hat. Das war eine bemerkenswerte strategische Volte. Denn es ist zwar wahrscheinlich, dass im nächsten EU-Parlament die konservative EVP, also von der Leyens Fraktion, wieder den größten Block stellen wird. Aber auch wenn die EVP mit der EKR zusammenarbeiten wollte, kämen sie gemeinsam wohl nur auf ein Drittel der Sitze, das reicht bei weitem nicht für eine Mehrheit.
Miriam Hartlapp: Von der Leyens Zukunft wackelt, könnte man sagen. Nicht nur, weil sie schon nach den letzten Wahlen 2019 nur mit einer sehr knappen Mehrheit vom Parlament gewählt worden ist, die durchaus noch weiter schrumpfen könnte. Sondern auch, weil ihre Machtbasis intern bröckelt: Innerhalb der EVP gibt es einige nationale Parteien, die sagen, Frau von der Leyen wollen wir nicht mehr, beispielsweise Les Républicains aus Frankreich. Deshalb könnte von der Leyen versucht sein, sich ihre Mehrheiten woanders zu beschaffen, vor allem, da sie mit Giorgia Meloni gerade bei Fragen der Migrationspolitik aus ihrer Perspektive im vergangenen halben Jahr sehr gut kooperiert hat.
Was wäre denn die Basis für solch eine Annäherung mit Melonis EKR?
Miriam Hartlapp: Frau von der Leyen hat ihre Zusammenarbeit mit Meloni oder anderen Rechtsparteien daran geknüpft, dass sie in der Ukraine-Frage auf der richtigen Seite stehen, sich also nicht pro-russisch positionieren wie große Teile der ID-Fraktion, und dass sie sich nicht grundsätzlich anti-europäisch positionieren. Man kann natürlich sagen, das ist aktuell das Einzige, was uns interessiert. Aber sollten in Europa nicht Fragen der Migrationspolitik, der Menschenrechte und vor allen Dingen der Rechtsstaatlichkeit genauso wichtig sein wie die Außenpolitik? Sind das nicht auch genuin europäische Kernthemen und Werte?
Wenn ich Sie beide richtig verstehe, gibt es im Grunde zwei Szenarien für die Zeit nach der Wahl: Entweder versuchen die Kommissionspräsidentin und die EVP, die Koalition der bürgerlichen Mitte mit den Grünen, den Liberalen und den Sozialdemokraten zu stabilisieren. Oder Ursula von der Leyen versucht, sich nach rechts zu öffnen, wie sie das gegenüber Meloni angedeutet hat, wobei man heute natürlich noch nicht weiß, welchen Gruppierungen in welcher Fraktion sie nach der Wahl gegenüberstehen wird.
Miriam Hartlapp: Genau, es hängt natürlich erstmal vom Wahlausgang ab, welche Mehrheiten rechnerisch möglich sind. Aber dann wird ausgehandelt werden, welche Zugeständnisse von der Leyen in die eine oder andere Richtung machen müsste, um eine Mehrheit zu bekommen. Das kann eine Weile dauern, bis da Klarheit entsteht. Wie es auch dauern kann, bis die Rechte sich neu geordnet hat: Wird es eine größere rechte Fraktion an Stelle der EKR geben, mit einer kleineren, noch extremeren Fraktion zu ihrer Rechten? Das ist ja etwas, was der Rassemblement National aus Frankreich gerne hätte.
Was ist deren Strategie? Warum hat sich Le Pen so klar von der AfD distanziert?
Miriam Hartlapp: Le Pen verfolgt seit Jahren einen Kurs der „dé-diabolisation“, der Entdämonisierung in eigener Sache, um zu Hause in Frankreich mehrheitsfähig zu werden. Sie hat jetzt schon rund ein Drittel der Wähler hinter sich und arbeitet daran, sich darzustellen als Partei, die von der breiten Masse gewählt werden kann. Dafür ist es ziemlich unpraktisch, eine AfD im Schlepptau zu haben, die derart extreme Positionen hat, sowohl was das Thema „Remigration“ angeht, als auch die SS-Relativierungen des AfD-Spitzenkandidaten Maximilian Krah. So etwas kommt in Frankreich oder Italien auch bei Wählern mit extrem rechten Positionen aus offensichtlichen historischen Gründen einfach nicht gut an. Le Pen orientiert sich stattdessen an Giorgia Meloni, die hat eine Vorbildfunktion: Es geht um die Machtoption.
Tanja Börzel: Auch die verschiedenen Skandale der AfD kommen bei den anderen Rechtsparteien nicht gut an, ich spreche von den mutmaßlichen Zahlungen und Einflussversuchen aus Russland und China. Russland ginge bei vielen vielleicht noch durch, aber als Agenten Chinas dazustehen, das geht zu weit: Schließlich will die nationalistische Rechte nicht den Anschein erwecken, dass man seine eigenen nationalen Interessen einfach so ans Ausland verkauft. Diese Art der mutmaßlichen Korruption und Bestechlichkeit, und dann auch noch durch ausländische Kräfte, damit wollen auch die europafeindlichen Parteien jedenfalls im Wahlkampf nicht in Verbindung gebracht werden, weshalb die AfD aus der ID ausgeschlossen wurde. Nach der Wahl kann es allerdings durchaus sein, dass die AfD wieder zurückkehren darf, zumal wenn sie sich von ihren beiden Spitzenkandidaten distanziert.
Die Fragen stellte Pepe Egger
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Am Montag, 10. Juni 2024, findet die Veranstaltung „Europa hat gewählt – was jetzt?“ des Exzellenzclusters SCRIPTS statt.