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Von der Eloquenz einer sprachlosen Nymphe

Mit einer Festrede der Leibniz-Preisträgerin Anita Traninger hat das von ihr gegründete Rhetorik-Forschungszentrum „echo“ an der Freien Universität Berlin seine Arbeit aufgenommen

04.07.2024

„Historische Tiefenechos aktueller Medienpraktiken“: In ihrer Eröffnungsrede skizzierte Anita Traninger einige der Forschungslinien, die das Zentrum in den kommenden Jahren verfolgen wird.

„Historische Tiefenechos aktueller Medienpraktiken“: In ihrer Eröffnungsrede skizzierte Anita Traninger einige der Forschungslinien, die das Zentrum in den kommenden Jahren verfolgen wird.
Bildquelle: Lorenz Brandtner

„Heute beginnt etwas Neues“, verkündet Anita Traninger. Die Professorin am Institut für Romanische Philologie der Freien Universität Berlin ist Direktorin von echo, einem neuen Forschungszentrum zur Erforschung der Rhetorik, das sie an diesem Sommerabend feierlich eröffnet. Mehr als zweihundert Gäste sind nach Dahlem gekommen, um diesen Anfang zu feiern. Universitätspräsident Günter M. Ziegler und die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra gehören zu den Grußrednern; der russisch-amerikanische Dichter Eugene Ostashevsky wird im Anschluss Gedichte lesen, darunter „Feeling, Echo“, ein eigens für den Abend verfasstes Echogedicht. Im Mittelpunkt steht jedoch eine Festrede, in der Anita Traninger echos Forschungsprogramm entwirft.

Das echo-Zentrum lässt sich als ein Plädoyer verstehen, Rhetorik als eigene Forschungsdisziplin ernst zu nehmen. Es wird finanziert durch das Preisgeld in Höhe von 2,5 Millionen Euro, das Anita Traninger im vergangenen Jahr erhalten hat, als die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ihr den renommierten Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Preis verlieh. Die Jury schrieb damals in ihrer Begründung, Anita Traningers Verständnis von Rhetorik sei „bahnbrechend“. In diesem Verständnis ist Rhetorik mehr als „Redeschmuck“, nicht nur eine Sammlung an sprachlichen Figuren mit lateinischen oder griechischen Namen; und sie ist nicht auf mündliche Kommunikation beschränkt. Rhetorik ist stattdessen Sprache, die zu überzeugen sucht, indem sie bewusst an ein Publikum ausgerichtet ist und mit „einer Öffentlichkeit kalkuliert“, wie Traninger in der Festrede erläutert. Der Einsatz von Anapher, Alliteration und Co. ist lediglich ein Oberflächenphänomen, entscheidender sind die Tiefenstrukturen der „rhetorischen Situation“, so die Romanistin: beispielsweise Machtrelationen, Sageoptionen und Sanktionshorizonte.

Rhetorik zwischen alten und neuen Medien

Sechzehn Projekte sind am Zentrum bereits angelaufen, die sich den unterschiedlichsten rhetorischen Phänomenen widmen. Etwa der sprachlichen Prägnanz von Inschriften und Epigrammen, die sich auch in den Kurzformen der Sozialen Medien wiederfindet, oder den rhetorischen Wurzeln des Beschämens und Beleidigens, die heute im Internet so verbreitet sind. Weitere Projekte haben Pantomime, Redefreiheit oder das Obszöne zum Thema. Gemein ist ihnen allen, dass sie „Tiefenbohrungen“ sind, wie Traninger sagt, also den Wurzeln der Rhetorik von heute über Jahrhunderte hinweg nachspüren.

Der Name des Zentrums mag auf den ersten Blick verblüffen, denn es ist nicht das Echo, nach dem das Zentrum benannt ist, sondern die Echo: Eine Nymphe aus der griechischen Mythologie, die der Fähigkeit beraubt ist, eigenständig zu sprechen. Ob in der griechischen Fassung, in der Echo Opfer eines brutalen Mordes ist, veranlasst vom Hirtengott Pan, dessen Avancen die Nymphe zurückgewiesen hatte, oder ob der Fluch der Göttin Juno ihre Sprache stutzt, wie es Ovid in seinen Metamorphosen erzählt – in beiden Fällen ist Echo dazu verdammt, nur die letzten Worte anderer wiederholen zu können, also der Widerhall zu sein, den wir heute das Echo nennen. 

Echo ist eine von vielen Frauen, die in der Mythologie zum Schweigen gebracht werden, merkt Anita Traninger an. Das sei kein Zufall, denn öffentliche Rede war Männerdomäne: „Echo ist die Ikone eines lang kultivierten Ausschlusses der Frau aus den Institutionen, in denen das Wort ergriffen wird – der Politik, den Medien, der Universität“, sagt Traninger in ihrer Festrede. Die Ausläufer dieses Ausschlusses beschäftigten uns bis heute, fügt sie hinzu. „Dass noch viel Arbeit vor uns liegt, daran erinnert der Name unseres Zentrums.“

Echo ergreift das Wort

Das Zentrum nimmt aber auch Bezug auf eine andere Lesart von Echo, in der die Nymphe gar nicht so machtlos ist, besonders in der Poesie der frühen Neuzeit, in der Echo zu einer beliebten Figur wurde. Zwar konnte Echo weiterhin nur antworten und wiederholen, doch indem sie Silben des zuvor Gesprochenen weglässt oder gleichlautende, aber bedeutungsverschiedene Wörter nutzt, „bemächtigt sie sich eines gegenläufigen Sinns“, so Anita Traninger. In dieser neuen Dichtung sei Echo zu einer „widerständigen und dabei wahrsprechenden“ Figur geworden, die aus ihrer Schwäche eine Stärke gemacht habe. „Die erzwungene Kürze ihrer Rede verleiht ihr Autorität“, sagt Traninger. 

Echos mutige Antworten verkörperten, was die alten Griechen Parrhesia nannten, fährt Anita Traninger fort. Gemeint ist damit das freimütige Aussprechen der Wahrheit, selbst wenn das Gegenüber sie nicht hören will. Parrhesia ist eine Form der Rhetorik, die echo in den Blick nimmt – und kritisch hinterfragt: Denn nicht jeder, der behauptet, die Wahrheit zu sagen, tut dies auch. Donald Trump zum Beispiel sei einer, der die Parrhesia für sich beansprucht, sagt Anita Traninger. „Die Rhetorik lehrt uns nicht nur das Navigieren der rhetorischen Situation, sondern auch ein Misstrauen gegenüber authentisch sich gerierenden, dabei kalkulierten Sprechakten.“