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„Vielleicht liegt noch ein unveröffentlichtes Werk verstaubt auf einem Dachboden“

Nach dem Sensationsfund von fünf Kleist-Briefen: ein Interview mit der Literaturwissenschaftlerin Anne Fleig

27.09.2024

Kreidezeichnung Heinrich von Kleists, vermutlich von Wilhelmine von Zenge um 1846

Kreidezeichnung Heinrich von Kleists, vermutlich von Wilhelmine von Zenge um 1846
Bildquelle: Stiftung Kleist-Museum

Im Tiroler Landesmuseum in Innsbruck wurden im vergangenen Jahr fünf bislang unbekannte Briefe des Dichters und Dramatikers Heinrich von Kleist entdeckt. Nun wurden sie der Öffentlichkeit vorgestellt – und die Nachricht vom Sensationsfund ging um die Welt. Beteiligt war auch Anne Fleig, Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität, Präsidentin der Heinrich von Kleist-Gesellschaft und Mitherausgeberin des Kleist-Jahrbuchs

Frau Professorin Fleig, die entdeckten Kleist-Briefe haben ein enormes Medienecho hervorgerufen. Sie selbst haben mehrere Interviews gegeben. Hat Sie das Interesse überrascht? 

Vor allem hat es mich natürlich gefreut! Alle am Fund beteiligten Personen und Institutionen haben die Veröffentlichung der Briefe akribisch vorbereitet. Über ein Jahr haben wir Stillschweigen bewahrt und sind dann gemeinsam an die Öffentlichkeit gegangen. Das hat wunderbar geklappt und war eine sehr schöne Erfahrung. Aber ja, es war beeindruckend zu sehen, wie rasant die Nachricht vom Fund dann gerade über Online-Medien in die Welt hinaus ging und dort ihre Runde machte. 

Stockerau, 22. Mai 1809: Brief von Heinrich von Kleist an Joseph von Buol

Stockerau, 22. Mai 1809: Brief von Heinrich von Kleist an Joseph von Buol
Bildquelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum

Dieses enorme Interesse ist aber auch gerechtfertigt. Heinrich von Kleist ist mit Goethe und Schiller einer der großen deutschsprachigen Autoren um 1800. Nicht nur in Deutschland ist er ein kanonischer Autor. Sein Werk wird auch heute noch weltweit rezipiert, und die Kleist-Forschung ist international vernetzt. Nicht zuletzt war es ja ein Germanist aus den USA, der die Briefe entdeckt hat – der emeritierte Professor Hermann Weiss. 

Sie nennen die Entdeckung auch einen „Jahrhundertfund“. Was macht diese Briefe so wertvoll? 

Der Briefnachlass Kleists ist im Gegensatz zu vielen anderen klassischen Autoren nur äußerst lückenhaft überliefert. Auch in seiner Biographie gibt es nach wie vor Perioden, über die wir recht wenig wissen. Jeder Brief, der auftaucht, ist in dieser Hinsicht von Bedeutung. Und nun waren es gleich fünf Briefe, die entdeckt wurden. Einen solchen Fund hat es tatsächlich seit über hundert Jahren nicht mehr gegeben! Aber auch der Inhalt der Briefe ist bemerkenswert. Darin wird Kleist noch einmal als politisch aktiver Schriftsteller erkennbar. 

„So will ich mich auch nicht weiter grämen, sondern wie der Bastard im Shakespeare sein, und es den Sternen in die Schuhe schieben.” Heinrich von Kleist an Joseph von Buol am 28. Januar 1810

„So will ich mich auch nicht weiter grämen, sondern wie der Bastard im Shakespeare sein, und es den Sternen in die Schuhe schieben.” Heinrich von Kleist an Joseph von Buol am 28. Januar 1810
Bildquelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum

Inwiefern? 

Kleist hat die Briefe zwischen Mai 1809 und Januar 1810 an den österreichischen Diplomaten Joseph von Buol-Berenberg geschrieben. Weite Teile Europas befanden sich zu dieser Zeit unter der Herrschaft Napoleons. Dagegen formierte sich immer mehr Widerstand, maßgeblich auch von österreichischer Seite. Auch Kleist war ein vehementer Gegner Napoleons und unterstützte den antinapoleonischen Befreiungskampf. In seinen Schriften wendet er sich immer wieder, teils sehr drastisch und brutal, gegen die Franzosen und ruft zum bewaffneten Widerstand auf.  Während des Briefwechsels hatte Österreich erst einen Sieg erzielt, dann jedoch eine herbe Niederlage gegen Napoleon erlitten. Die österreichische Regierung suchte einen Waffenstillstand. Kleist war strikt dagegen und pochte gegenüber Buol-Berenberg auf eine Fortsetzung des Krieges.

Welche Fragen ergeben sich aus den Briefen für die Forschung? 

Zunächst einmal zeigt die Entdeckung eindrücklich, wie wichtig und lohnenswert langwierige Archivarbeit in den Geisteswissenschaften sein kann. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der Fund einem emeritierten Kollegen gelungen ist. Viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in der heutigen Forschungslandschaft immer weniger Zeit, solche aufwendigen Recherchen zu betreiben. Ich hoffe, dass der Fund trotzdem zur weiteren Archiv-Arbeit anregen kann, vielleicht auch Studierende. Im Zentrum steht aber jetzt erst einmal die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Briefen. 

Kleists Brief vom 23. Mai 1809 enthält Schilderungen der Schlacht bei Aspern. Kleist war am Tag nach der Schlacht auf den bei Wien gelegenen Bisamberg gestiegen und hatte von dort das Feld beobachtet, auf dem Napoleon seine erste Schlacht verlor.

Kleists Brief vom 23. Mai 1809 enthält Schilderungen der Schlacht bei Aspern. Kleist war am Tag nach der Schlacht auf den bei Wien gelegenen Bisamberg gestiegen und hatte von dort das Feld beobachtet, auf dem Napoleon seine erste Schlacht verlor.
Bildquelle: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum

Welche Anknüpfungspunkte sehen Sie da?

Da gibt es viele verschiedene Facetten. Zum einen die bereits diskutierten politischen Punkte. Während die antinapoleonische Haltung Kleists hinlänglich bekannt ist, sind Kleists politische Überzeugungen eher schwer zu bestimmen. Was sollte nach dem Widerstand gegen Napoleon eigentlich kommen? Was war sein Ziel? Das ist in der Forschung stark umstritten. Die Briefe werden uns hier vielleicht neue Schlüsse ermöglichen. Daneben werfen die Briefe auch biographische Fragen auf. Der Adressat der Briefe war der Forschung zwar bekannt – der Ton der Briefe legt allerdings nahe, dass es durchaus ein engerer Freund Kleists gewesen sein könnte. Da insbesondere über den Winter 1809/1810, den Monaten vor seiner letzten Lebensstation Berlin, sehr wenig bekannt ist, können wir hier jetzt neue Spuren verfolgen. In einem der Briefe spricht Kleist auch darüber, dass er einer „Todeskrankheit“ entronnen sei. Darüber war bislang nichts bekannt. Besonders spektakulär ist aber natürlich die Erwähnung des „Don Quixote“!

Was hat es damit auf sich? 

Kleist schickt dem Empfänger der Briefe eine Reihe eigener Texte und erwähnt dabei auch einen „Don Quixote“. Dass er ein Werk über die spanische Ritterfigur verfasst haben könnte, ist der Forschung bislang völlig unbekannt. Möglicherweise gibt es also ein noch unveröffentlichtes Werk Kleists, das heute verstaubt auf einem Dachboden liegt. Danach wird jetzt sicherlich gesucht werden. Wer weiß, vielleicht können wir irgendwann einen weiteren Fund vermelden! 

Die Fragen stellte Dennis Yücel