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Medizinisch wirksam oder nur Einbildung?

Psychologie-Professorin Christine Knaevelsrud leitet ein Forschungsprojekt zur Wirksamkeit medizinischer Behandlungen und Erwartungen von Patienten

26.09.2024

Körpereigene Apotheke öffnen: Erwartungen beeinflussen bei vielen Erkrankungen die Behandlung.

Körpereigene Apotheke öffnen: Erwartungen beeinflussen bei vielen Erkrankungen die Behandlung.
Bildquelle: Picture Alliance / Mareen Fischinger

Frau Professorin Knaevelsrud, hat Ihre letzte Kopfschmerztablette gewirkt?

Wenn ich eine Schmerztablette nehme, wirkt sie meist hervorragend. Lange dachte ich, dass allein der medizinische Wirkstoff hilft. Inzwischen weiß ich, dass ein Teil des Erfolgs auf Placebo-Effekte zurückzuführen ist.

Wie lässt sich der Placebo-Effekt erklären?

Stellen Sie sich vor, Sie beißen in eine Zitrone. Allein der Gedanke löst in der Regel ein Zusammenziehen der Mundschleimhaut und Speichelfluss aus, also eine physische Reaktion. Die Macht der Erwartung erleben wir in vielen Kontexten. Forschende wissen schon lange, dass Erwartungen körperliche Symptome, die Schmerzwahrnehmung, den Verlauf einer Erkrankung und den Therapieerfolg beeinflussen können. Die genauen psychologischen und neurobiologischen Mechanismen dahinter untersuchen wir im Sonderforschungsbereich „Treatment Expectation“ – mit dem Ziel, sie zum Wohle der Patientinnen und Patienten zu nutzen. Beteiligt sind Fachleute aus den Neurowissenschaften, der Psychologie, der Biologie und verschiedenen medizinischen Fachrichtungen. 

Fest steht jetzt schon, dass diese Effekte weder Zufall noch Einbildung sind. Sie beruhen auf komplexen psychoneurobiologischen Vorgängen im Gehirn. Allein der Glaube an die Wirksamkeit einer bestimmten Therapie kann Mechanismen im Körper aktivieren, die den Erfolg der Behandlung verstärken. Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen, dass dabei bestimmte Areale im Gehirn aktiviert werden – etwa schmerzlindernde Systeme. Man kann dies als eine Art „körpereigene Apotheke“ beschreiben. So kann schon allein die Erwartung, dass eine Tablette Schmerzen lindern wird, im Gehirn zur Ausschüttung schmerzlindernder Substanzen, sogenannter körpereigener Opioide, führen. 

Zwei Aspekte spielen dabei eine wichtige Rolle: Unbewusste Konditionierung durch Vorerfahrungen führt dazu, dass mein Körper auf die Gabe von Medikamenten reagiert, ohne dass ich es tatsächlich steuere. Dazu kommt die Interaktion mit Arzt, Ärztin oder Therapeuten: Jemand kümmert sich um mich, den ich idealerweise als aufmerksam und zugewandt, aber auch als professionell und kompetent erlebe.

Wo liegen die Grenzen des Placebo-Effekts?

Erwartungen können nur auf physiologische Prozesse wirken, die der Körper selbst auslösen kann – von der Atmung über die Verdauung bis hin zum Immunsystem und eben dem Schmerzempfinden. In der Schmerztherapie, bei neurologischen und psychischen Erkrankungen wie Parkinson, Angst oder Depression sind Placebo-Effekte relativ groß. 

Christine Knaevelsrud ist Professorin für Klinisch- Psychologische Interventionen der Freien Universität Berlin

Christine Knaevelsrud ist Professorin für Klinisch- Psychologische Interventionen der Freien Universität Berlin

Können negative Erwartungen auch Nachteile haben?

Ja, denn durch negative Erwartungen werden ebenfalls Prozesse im zentralen Nervensystem angestoßen, die zu körperlichen Veränderungen führen können: Die Angst vor Schmerzen kann Opioide blockieren und den Botenstoff Dopamin hemmen, sodass Schmerzen tatsächlich stärker wahrgenommen werden. Erfahre ich, dass ein Bekannter ein bestimmtes Medikament schlecht vertragen hat, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass es auch bei mir Nebenwirkungen hervorruft. Der sogenannte Nocebo-Effekt spielt im Alltag wahrscheinlich eine noch größere Rolle als der Placebo-Effekt, ist aber viel weniger gut untersucht.

Könnte man einfach Placebos verschreiben, um Geld zu sparen und Nebenwirkungen zu vermeiden?

Patientinnen und Patienten im Unklaren über eine Placebo-Behandlung zu lassen, ist – außerhalb von streng regulierten Studien – ethisch und juristisch problematisch. Eine Lösung bieten die sogenannten Open-Label-Placebos (OLP), bei denen die Betroffenen über die Placebo-Natur der Behandlung informiert werden. Erstaunlicherweise zeigen mehrere unabhängige Studien, dass OLPs bei verschiedenen Schmerzerkrankungen das Schmerzempfinden, die körperliche Funktionsfähigkeit und die Lebensqualität verbessern können. Auch bei Depressionen und chronischer Erschöpfung gibt es vielversprechende Ergebnisse.

Dieses Phänomen hat mich zunächst ratlos gemacht. Ich erkläre es mir so: Auch hier wirkt die Interaktion mit Ärztin oder Arzt und die Information, dass diese Maßnahme bereits anderen Menschen geholfen hat. Aber wir müssen noch im Detail erforschen, wie OLPs funktionieren, welche Menschen besonders davon profitieren und wie sie in der klinischen Praxis eingesetzt werden können.

Ihr Fachgebiet ist die digitale Therapie gegen Depressionen. Welche Rollen spielen Erwartungen dort?

Ein besonderer Aspekt der Depression ist eine Art negativer Filter: Die Erkrankung ist geprägt von negativen Erwartungen. Deshalb sind Patientinnen und Patienten häufig überzeugt, dass eine Therapie gerade bei ihnen nicht helfen wird, auch wenn andere davon profitiert haben. Unter diesen Bedingungen ist es jedoch schwierig, jemanden überhaupt zur Mitwirkung zu motivieren.

Andererseits können überhöhte positive Erwartungen auch ein Problem sein. Wer glaubt, nach Therapiebeginn sofort wieder einen Job zu finden oder jeden Tag großartig gelaunt zu sein, kann enttäuscht werden, vielleicht sogar die Behandlung abbrechen – und damit eine negative Vorerfahrung abspeichern.

Wir wollen herausfinden, welche Erwartungen zum Start einer Online-Therapie ideal sind, wie sie sich im Laufe der Zeit verändern und wie Behandelnde mit den Hoffnungen und Ängsten ihrer Patienten und Patientinnen bewusst umgehen können.

Internetbasierte Interventionen haben den Vorteil, dass wir einzelne Komponenten der Behandlung bis hin zu konkreten Formulierungen besser isolieren, steuern und die Wirkung bei einer großen Anzahl von Patientinnen und Patienten vergleichen können. Ob diese erfahren, dass zehn Prozent der Behandelten Nebenwirkungen verspüren oder dass 90 Prozent das Medikament gut vertragen, kann einen Unterschied bewirken. Dabei geht es nicht darum, Informationen zu verschweigen, sondern sie so zu vermitteln, dass weniger Ängste und Sorgen entstehen.

Was könnte diese Forschung verändern?

Der Begriff „Placebo“ hat leider einen schlechten Ruf: Wenn man sagt, man nutze die Kraft des Placebos, klingt das für viele unseriös. Aber es geht ja nicht darum, Patienten eine nicht vorhandene Wirkung vorzugaukeln. Der gesamte Kontext, in dem Medikamente oder Therapien angeboten werden, ist enorm wichtig. Kontextfaktoren können die Wirkung verstärken oder – im schlimmsten Fall – zunichtemachen. Das bedeutet keineswegs, dass Wirkstoffe und Techniken nicht funktionieren. Vielmehr wirken sie in einem komplexen Zusammenspiel. Deshalb brauchen wir mehr Zeit für Gespräche. Als Therapeutin muss ich wissen, mit welchen Erfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen jemand zu mir kommt, um individuell darauf einzugehen.

Was bedeutet diese Forschung für Sie persönlich?

Als ich gefragt wurde, ob ich in diesem Sonderforschungsbereich mitarbeiten möchte, habe ich zugesagt und es keine Sekunde bereut. Der Verbund ist in seiner Größe und Zusammensetzung weltweit einzigartig. Es gibt auf diesem Gebiet viel mehr Fragen als Antworten, und ich habe das Privileg, diese Fragen zu stellen und zu erforschen.

Die Fragen stellte Marion Kuka.