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Ist der Föderalismus für die Zukunft gewappnet?

Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen debattierten bei einer von Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp von der Freien Universität Berlin organisierten Tagung

21.10.2024

75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Föderalismus. Wie gut ist die Bundesländer-Struktur geeignet, um auf die komplexen Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren?

75 Jahre Grundgesetz, 75 Jahre Föderalismus. Wie gut ist die Bundesländer-Struktur geeignet, um auf die komplexen Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren?
Bildquelle: Picture Alliance / Zoonar DesignIt

Klimaschutz, Digitalisierung, Rechtspopulismus. Die Bundesrepublik Deutschland steht vor massiven Herausforderungen, die einen hohen Koordinierungsaufwand benötigen. Ist ein komplexes föderales System aus Bund und Ländern da noch zukunftsfähig? Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes stellten Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen den Zustand des deutschen Bundesstaates zur Debatte.

Das föderale System der Bundesrepublik ist schon seit ihrer Gründung umstritten. Für die einen ist es Ausdruck gelungener Demokratie – ein System des fairen Ausgleichs und der Kompromisse zwischen den Bundesländern. Für die anderen steht der Bundesstaat für einen komplizierten und schwerfälligen Flickenteppich, ungeeignet, den großen Herausforderungen unserer Zeit gerecht zu werden.

Dr. Sabine Kropp, Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, Arbeitsstelle Politisches System der Bundesrepublik Deutschland.

Dr. Sabine Kropp, Professorin für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität, Arbeitsstelle Politisches System der Bundesrepublik Deutschland.
Bildquelle: Privat

„Heute stellt sich erneut die Frage, inwieweit der Föderalismus für die Zukunft gewappnet ist“, sagt Sabine Kropp. „Sei es in Fragen der Digitalisierung, der Energiepolitik, des Klimaschutzes oder der Verteidigung der Demokratie gegenüber Rechtspopulisten.“

„Föderalismus als Lernstruktur bietet Vorteile“

Sabine Kropp ist Professorin am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität und Expertin für das Politische System der Bundesrepublik Deutschland. Gemeinsam mit dem Forum of Federations – einem internationalen Netzwerk föderaler Staaten – stellte sie im Oktober den Zustand des deutschen Föderalismus in einer Konferenz zur Debatte. Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Grundgesetzes diskutierten die Teilnehmer*innen in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zur Frage „Ist der Bundesstaat noch zeitgemäß?“. Unter den Gästen befanden sich zahlreiche Vertreter*innen aus Wissenschaft und Politik – darunter etwa die Staatssekretäre Bernd Krösser (in Vertretung der Bundesinnenministerin Nancy Faeser) und Markus Richter und der ehemalige Bundestagspräsident Nobert Lammert.

Politikwissenschaftlerin Sabine Kropp unterstreicht, dass der Föderalismus als Lernstruktur durchaus Vorteile biete. „Wir können in verschiedenen Bundesländern unterschiedliche Modelle ausprobieren und Best Practices vergleichen“, sagt sie. „Eventuelle Fehler, die gemacht werden, werden nicht gleich flächendeckend gemacht, sondern lokal begrenzt, wo sie einfacher korrigiert werden können.“ Auch zeigten Studien, dass die Bürger*innen der Politik der Länder oft mehr Vertrauen schenkten, als der des Bundes.

Grenzen und Möglichkeiten

„Das föderale System kommt vor allem dort an seine Grenzen, wo der Koordinierungsaufwand hoch ist“, sagt Sabine Kropp. „Für Bürger*innen war dies während der Corona-Pandemie besonders spürbar – als wir uns im Vergleich mit Zentralstaaten schwerer damit taten, regional angepasste und gleichzeitig kompatible Regeln zu finden.“

Auch in Sachen Klimaschutz, Energie und Digitalisierung gelte es, an einem Strang zu ziehen: Die Fragmentierung der Daten sei zu groß, Kompetenzen von Bund, Ländern und Kommunen müssten besser gebündelt werden, teilweise müssten im Rahmen der Digitalisierung Standards und technische Regelungen dringend vereinheitlicht werden – darüber waren sich die Expert*innen in den Panels weitgehend einig. Hier habe der deutsche Föderalismus erheblichen Nachholbedarf.

Auch die jüngsten Wahlerfolge der in Teilen rechtsextremen AfD in Thüringen, Sachsen und Brandenburg stellen die Bundesrepublik vor besondere Herausforderungen. „Sollte es der AfD eines Tages gelingen, in den Ländern tatsächlich an der Regierung beteiligt zu werden, hätten dies weitreichende Kompetenzen, etwa in der Bildungspolitik“ erläutert Sabine Kropp. „Über den Bundesrat hätte die Partei dann auch die Möglichkeit, die Gesetzgebung des Bundes mitzubestimmen.“

Modernisierung ja, aber Vorsicht vor Verfassungsänderung

Muss das föderale System der Bundesrepublik also grundlegend reformiert werden? Auf der Konferenz in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften mahnten viele Stimmen zur Behutsamkeit. Eine Modernisierung und Flexibilisierung sei zwar nötig – vor grundlegenden Verfassungsänderungen warnten jedoch viele.

„Wir sollten nach neuen Wegen suchen, wie wir Herausforderungen im bestehenden Rahmen besser lösen können“, sagte Stefan Korioth, Professor für Öffentliches Recht an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in der Abschlussdiskussion. „Nicht nach einem großen Rundumschlag!“

Norbert Lammert unterstrich, dass der Bund ohnehin in immer mehr Politikbereichen der Länder mitregiere. „Der Bund hat mittlerweile fast überall seinen Löffel im Topf“, sagte er. „Das gilt selbst für die Bildungspolitik, sozusagen die Königsdisziplin der Länder.“

Lammert, der selbst jahrzehntelang die Bundespolitik mitgestaltet hat, kritisierte diese Entwicklung. Zu oft hätten die Länder in der Vergangenheit Kompetenzen freiwillig aufgegeben. „Es fehlt den Ländern zwar bislang nicht an Selbstbewusstsein“, sagte er, „jedoch oft genug an Selbstbehauptungswillen.“

Auch Sabine Kropp schlägt vor, besser niedrigschwellige Reformversuche zu unternehmen, statt Verfassungsänderungen zu versuchen. „Vorangegangene Versuche, den Bundesstaat zu entflechten, mündeten leider sehr schnell in Nullsummenkonflikte“, sagt sie. „Es ging schließlich vor allem darum, welche Kompetenzen der Bund und welche die Länder bekommen und wer Zuständigkeiten verliert.“

Plädoyer fürs Ausprobieren

Der Fehler sei gewesen, dass man sich zu stark an dualen föderalen Systemen orientiert habe wie den Vereinigten Staaten. „Anders als die USA basiert der deutsche Bundesstaat allerdings nicht auf strikten Kompetenzgrenzen“, sagte Kropp. „Sondern im Gegenteil auf einer engen Verflechtung und der ständigen Suche nach Ausgleich und Kompromiss.“

Hier solle man in Zukunft neue Wege suchen, um flexible Lösungen zu erreichen. So könne man zum Beispiel sogenannte Opt-outs ermöglichen, also die Möglichkeit, dass einzelne Länder bestimmte Absprachen nicht umsetzen müssen. So könnten zum Beispiel die Entscheidungsregeln in den Ministerkonferenzen, in denen die einzelnen Fachminister der Länder zusammenkommen, als Forum flexibilisiert werden.

„Wir brauchen in Deutschland mehr Experimentierfreudigkeit“, sagte Nobert Lammert auf der Konferenz. „Manches muss man einfach mal ausprobieren – ohne, dass es sofort in ein Gesetz gegossen wird.“