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„Die Stärke der Demokratie bemisst sich am Umgang mit Enttäuschung“

Mounir Zahran untersucht, wie Demokratien gelingen können und wann es zu populistischen Scheinlösungen kommt

19.02.2025

Die eigene Stimme abgeben: Zur Demokratie gehört, dass Wandel durch das Votum der Wählerinnen und Wähler möglich ist. Am 23. Februar wird der 21. Bundestag gewählt.

Die eigene Stimme abgeben: Zur Demokratie gehört, dass Wandel durch das Votum der Wählerinnen und Wähler möglich ist. Am 23. Februar wird der 21. Bundestag gewählt.
Bildquelle: Picture Alliance/dts-Agentur

Die liberale Demokratie steht weltweit unter Druck. Rechtspopulistische Politiker und Politikerinnen, die ihre Verachtung für demokratische Prozesse ganz offen zur Schau stellen, säen Hass und Zwietracht. Wo sie an die Macht gelangen, wie jüngst erneut Donald Trump in den Vereinigten Staaten, arbeiten sie daran, die Institutionen zu untergraben.

In Deutschland könnte die AfD aus der Bundestagswahl erstmals als zweitstärkste Kraft hervorgehen. Und empirisch lässt sich feststellen: Der Zuspruch zur Demokratie in der bundesdeutschen Bevölkerung sinkt. In einer aktuellen Studie der Universität Leipzig gaben zwar rund 90 Prozent der Befragten an, hinter der Demokratie als Idee zu stehen. Die Aussage „Demokratie, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland funktioniert“, findet aber nur noch bei 42 Prozent Zustimmung.

Das sind 15 Prozent weniger als noch vor zwei Jahren. Woran liegt das – und wie kann das Vertrauen wiederhergestellt werden?

„In der Politikwissenschaft wird zumeist angenommen, dass die Zustimmung von Menschen zum demokratischen System vor allem davon abhängt, ob die Politik unter dem Stichwort Responsivität ihre Präferenzen adäquat umsetzt“, sagt Mounir Zahran. „Doch dieses Modell wird der Komplexität der Realität nicht gerecht.“

„Menschen müssen beständig die Erwartung haben können, dass sie das Blatt wenden können.“

In seiner Forschung stellt Mounir Zahran deshalb einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt: In seiner Doktorarbeit am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin und der Juristischen Fakultät der Humboldt Universität zu Berlin untersucht er die Bedingungen, wie liberale Demokratien in ihrem Umgang mit Erwartungen und Enttäuschungen von Wählern und Wählerinnen gelingen können. „Schwere Enttäuschungen entstehen nicht, wenn Menschen nicht genau das Ergebnis bekommen, das sie sich vermeintlich wünschen, sondern wenn sie den Eindruck haben, dass Entscheidungen endgültig sind“, sagt er. „Kern des demokratischen Systems ist, dass nichts in Stein gemeißelt ist. Menschen müssen beständig die Erwartung haben können, dass sie das Blatt wenden können.“

Die basale Bedingung dafür sei das Vertrauen, dass Wahlen fair und frei ablaufen. „Nur so können Menschen mit der Enttäuschung umgehen, wenn die eigene Partei nicht die Mehrheit erringt“, sagt Zahran. „Die Wählerinnen und Wähler sind dann vielleicht von dem konkreten Ergebnis enttäuscht, nicht aber von dem Prozess an sich.“

Entscheidender sei allerdings die Erwartung, beim nächsten Mal wieder zum Zug zu kommen – und durch ihre Wahl unliebsame politische Projekte rückgängig machen zu können. Gerade in diesem Punkt jedoch geraten Demokratien derzeit an ihre Grenzen. „Die Schwierigkeit liegt darin, dass wir heute vor politischen Entscheidungen mit solcher Tragweite stehen“, sagt Zahran, „dass sie sich in der Wahrnehmung der Wählenden nur noch äußerst schwer oder sogar gar nicht mehr rückgängig machen lassen.“

Ein Beispiel: die Klimakrise. Im Kampf gegen den Klimawandel droht sich das Zeitfenster zu schließen. Um den Klimazielen von Paris Rechnung zu tragen und die Erderwärmung auf 1,5 bis 2 Grad Celsius zu begrenzen, müssen unmittelbare Maßnahmen getroffen werden. In der nächsten Legislatur ist es möglicherweise zu spät. „Es gibt dann schlicht keine zweite Chance mehr, die Entwicklung zurückzudrehen“, sagt Zahran.

Der Gegenseite ergehe es jedoch ähnlich. „Kohleausstieg oder Verbrenner-Aus sind ebenfalls politische Einschnitte, die sich nur schwer wieder zurückdrehen lassen, wenn sie einmal umgesetzt sind“. „Anhängerinnen und Anhänger beider Seiten haben so permanent das Gefühl, dass es ums Ganze geht – und es entstehen Enttäuschungen, die sich nicht mehr so einfach mit dem Verweis auf die nächsten Wahlen abfedern lassen.“

„Populistische Politikerinnen und Politiker wecken die Erwartung, dass große Veränderungen unkompliziert möglich sind“

Erschwerend komme hinzu, dass gerade heute, wo derart richtungsweisende Entscheidungen getroffen werden müssen, die Handlungsmacht einzelner politischer Akteure schwinde. „Das Grundversprechen der Demokratie, dass alles möglich ist, dass sich die Dinge jederzeit ändern lassen, wird zunehmend schwerer einzulösen“, sagt Zahran. „Die Handlungsmacht von Parlamenten und Regierungen wird immer kleiner gegenüber komplexen globalen Prozessen.“ So erkläre sich auch der Erfolg populistischer Politikerinnen und Politiker und Parteien. „Sie wecken Erwartungen, die der Demokratie eigentlich inhärent sind: Große Veränderungen sind noch unkompliziert möglich“, sagt Zahran. „Sie versprechen ‚durchzuregieren‘ und, wie jüngst Donald Trump, Entscheidungen der Gegenseite bereits am ersten Tag im Amt zurückzudrehen.“

Oft genug scheitere ihre Politik dann aber an der Wirklichkeit. Als Beispiel nennt Zahran den Umgang der italienischen Regierung unter Giorgia Meloni mit Geflüchteten. „Natürlich hat sich die Situation für Schutzsuchende in Italien massiv verschärft. Doch statt dass eine versprochene Ordnung herrscht, hat sich Meloni in einen jahrelangen Rechtsstreit verstrickt.“

Mounir Zahran ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie der Freien Universität Berlin

Mounir Zahran ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Arbeitsbereich Politische Theorie und Philosophie der Freien Universität Berlin
Bildquelle: privat

Auch im aktuellen Wahlkampf in Deutschland beobachtet Zahran derartige Tendenzen – nicht nur von den unverhohlen populistischen Akteuren wie der AfD oder dem Bündnis Sahra Wagenknecht. „Auch der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz schlägt zunehmend in diese Kerbe“, sagt Zahran. „Er weckt Erwartungen an Grenzzurückweisungen, die er zumindest unter heutigem Europarecht nicht wird einlösen können.“

Natürlich müsse die Erwartung an die grundsätzliche Veränderbarkeit der Welt als elementarer Bestandteil der Demokratie erhalten bleiben. Gleichzeitig müsse die Politik heute stärker denn je auf Enttäuschungen achten, die bei Wählerinnen und Wählern entstehen. Grundsätzlich biete das deutsche Wahlsystem mit seinem Verhältniswahlrecht dafür gute Bedingungen. „Anders als im Mehrheitswahlrecht gibt es hier keine absoluten Gewinner und Verlierer“, sagt Zahran. „Das deutsche System fordert zu Dialog und Kompromiss auf. Dafür braucht es allerdings eine Politik, die über Parteigrenzen hinweg das Gemeinwohl in den Blick nimmt.“