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Meilenstein der DDR-Forschung

Über drei Jahrzehnte trug der Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin zur Aufarbeitung der DDR- und Kommunismusgeschichte bei

19.02.2025

Mauerrückbau. Im Juni 1990 wird mit dem systematischen Abriss der Grenzbefestigungsanlagen an der Berliner Mauer begonnen, wie hier an der Bernauer Straße im Bezirk Berlin-Wedding.

Mauerrückbau. Im Juni 1990 wird mit dem systematischen Abriss der Grenzbefestigungsanlagen an der Berliner Mauer begonnen, wie hier an der Bernauer Straße im Bezirk Berlin-Wedding.
Bildquelle:  picture alliance/Hans-Peter Stiebing

Die DDR war eine Diktatur. Aber handelte es sich auch um einen totalitären Staat? Jahrzehntelang schieden sich an dieser Frage die Geister. Diskutiert wird darüber in den Politik- und Geschichtswissenschaften bis in die Gegenwart. Über Jahrzehnte beteiligten sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Forschungsverbunds SED-Staat an der Freien Universität nachhaltig an den geschichtspolitischen Debatten über die SED-Diktatur.

„Es war für mich von Beginn an klar, dass es sich um ein totalitäres Regime handelte“, sagt Klaus Schroeder. „Die SED hat den Menschen in der DDR vorgeschrieben, wie sie zu leben und zu denken haben. Sie hat versucht, jeden Bereich des öffentlichen und privaten Lebens zu kontrollieren. Es gab dort keinen Raum für eine Zivilgesellschaft. Das ist totalitär.“

Klaus Schroeder ist Professor am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität. Im Jahr 1992 war er einer der Gründer des Forschungsverbunds SED-Staat. Mehr als 30 Jahre lang prägte die Forschungseinrichtung die bundesrepublikanische Auseinandersetzung mit der DDR-Geschichte und der deutschen Vereinigung. Zum Ende des vergangenen Jahres lief das Forschungsinstitut nun nach vielfacher Laufzeitverlängerung aus.

Maßgeblich vorangetrieben wurde die Gründung des Forschungsverbundes vom damaligen Präsidenten der Freien Universität, dem Rechtswissenschaftler Professor Johann W. Gerlach, der gemeinsam mit dem seinerzeitigen Bildungssenator Manfred Erhardt Klaus Schroeder zum Leiter des Forschungsverbundes ernannte.

Über 30 Studien erarbeitet

Die Entscheidung, den Forschungsverbund an der Freien Universität Berlin – und nicht an der Humboldt-Universität zu Berlin im Osten der vereinigten Stadt – zu gründen, sei aus zwei Erwägungen heraus erfolgt, erinnert sich Projektleiter Jochen Staadt. „Zum einen hatte sich die Humboldt-Universität damals noch nicht vollständig von ihrer DDR-Vergangenheit gelöst und erschien daher für eine unabhängige Forschungsstelle ungeeignet, zum anderen war nach dem Mauerfall deutlich geworden, dass die DDR-Forschung an der Freien Universität neubelebt werden musste – man hatte dort am Institut für sozialwissenschaftliche Forschung schlicht an der DDR-Realität vorbei geforscht.“

„Zu einer Zeit, als die westdeutsche DDR-Forschung vor allem Wirtschaft, Kunst und Literatur im Blick hatte, gingen wir sozusagen ans Eingemachte“, sagt Klaus Schroeder. „Wir klärten über die Verbrechen der SED an den innerdeutschen Grenzen auf und zeigten die zahlreichen Freiheitsbeschränkungen, denen Menschen in der DDR alltäglich ausgesetzt waren.“

Zu Beginn seien sie mit dieser Forschung durchaus auch an der Freien Universität angeeckt, erinnert sich Jochen Staadt, „denn auch in Dahlem gab es seit Mitte der 1960er-Jahre Wissenschaftler, die das DDR-Regime im Kontext gutgemeinter Entspannungsbemühungen verharmlosten oder sogar Sympathien für den DDR-Staat hegten“.

Neue Möglichkeiten durch Öffnung der DDR-Archive nach der Wende

Anfang der 1990er-Jahre ist der Forschungsverbund SED-Staat zur richtigen Zeit am richtigen Ort: Die Gründung des Verbundes, in dem von Beginn an Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Ost- und Westdeutschland zusammenarbeiten, fällt zeitlich mit der Öffnung der DDR-Archive zusammen. Dadurch konnte die Geschichte des SED-Regimes auf der Grundlage authentischer Quellen erschlossen werden. „Auch kam nebenbei ans Licht, welche zum Teil prominenten Schriftsteller, Sportler oder Politiker sich als Inoffizielle Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes hergegeben hatten und auf welche Weise in einem ungeahnten Ausmaß in allen gesellschaftlichen Bereichen der DDR Bürgerinnen und Bürger bespitzelt worden waren“, erinnert sich Jochen Staadt.

Als der Bundestag in den 1990ern-Jahren zwei aufeinander folgende  Enquête-Kommissionen zur Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur einsetzt, werden Mitarbeitende des Verbundes mit zahlreichen Gutachten betraut. „Wir konnten so von Beginn an zur Aufklärungsarbeit über die Gewaltherrschaft in der DDR beitragen“, sagt Klaus Schroeder. „Dabei ging es uns immer darum zu verdeutlichen, dass die Stasi nicht der zentrale Akteur war, sondern nur ein Rädchen in einem von der SED geführten System.“

Mehr als 30 Studien über die DDR-Geschichte und über 50 Zeitschriftenausgaben entstehen in der Folgezeit. Die Universitätsbibliografie weist über 1500 Veröffentlichungen der insgesamt rund 50 Forschenden des Verbunds aus. Eines der Werke ist das Buch „Der SED-Staat“ von Klaus Schroeder, in dem nahezu alle Facetten der DDR beleuchtet werden sowie der Reclam-Band „Geschichte und Strukturen der DDR“, der in Schulen und Weiterbildungseinrichtungen bis heute eingesetzt wird. Die Forschungsergebnisse gingen auch in Lehrveranstaltungen des Otto-Suhr-Institutes ein.

Todesumstände ermittelt

Einer breiteren Öffentlichkeit wird die Arbeit des Forschungsverbundes unter anderem Anfang der 2000er-Jahre bekannt durch eine dreiteilige ARD-Dokumentation über die Tätigkeit der Stasi im ost- und westdeutschen Rundfunksystem.

Der Soziologe Manfred Wilke, der den Forschungsverbund gemeinsam mit Schroeder gegründet hatte, fungierte bei der Produktion des oscarprämierten Kinofilms „Das Leben der Anderen“ als Berater des Regisseurs Florian Henckel von Donnersmarck. Die Filme „Ein Tag in der DDR“, die Dokumentation einer Flucht aus der DDR, sowie „Das Internat“ betreute und kommentierte Klaus Schroeder. Er gehörte Ausschüssen der Stasi-Unterlagenbehörde, des Bundestages und des Landes Brandenburg an. Neben Film- und Fernsehproduktionen beraten die Beschäftigten des Verbunds Gedenkstätten und Museen.

Prof. Dr. Klaus Schroeder (l.) leitete den Forschungsverbund SED-Staat, der 2024 auslief. Dr. Jochen Staadt war im Forschungsverbund Projektleiter.

Prof. Dr. Klaus Schroeder (l.) leitete den Forschungsverbund SED-Staat, der 2024 auslief. Dr. Jochen Staadt war im Forschungsverbund Projektleiter.
Bildquelle: privat (li.)/Bernd Wannenmacher (re.)

In den vergangenen Jahren machte sich der Forschungsverbund schließlich mit der kritischen Aufarbeitung der Verbrechen an den Grenzen des Eisernen Vorhangs einen Namen: In einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit rund drei Millionen Euro geförderten Projekt arbeitete ein Team des Forschungsverbundes zuletzt zusammen mit den Universitäten Greifswald und Potsdam die Geschichte der Todesopfer des SED-Grenzregimes umfassend auf.

Insgesamt 915 Todesfälle an den Grenzen des Eisernen Vorhangs und in der Ostsee wurden biografisch erfasst, zudem 121 Verdachtsfälle. In zwei Handbüchern sind die Einzelschicksale von mehr als 460 Personen beschrieben, die an der innerdeutschen Grenze und den Grenzen der europäischen Ostblockstaaten zu Tode kamen. Menschen, die auf der Flucht erschossen wurden, waren ebenso unter den Opfern wie DDR-Grenzer, die von Fahnenflüchtlingen erschossen wurden, oder DDR-Grenzsoldaten, die aus Verzweiflung über die Zumutungen des Dienstes Suizid begingen.

Schließlich wurden auch die Todesumstände von Westdeutschen ermittelt, die den Grenzregimen am Eisernen Vorhang zum Opfer fielen. „Viele Menschen konnten so zum ersten Mal nachverfolgen, was aus ihren Freunden und Angehörigen geworden war“, sagt Jochen Staadt. „Denn von den DDR-Behörden hatten die betroffenen Familien damals nicht mehr als eine nüchterne Todesbenachrichtigung erhalten, ohne Angaben über die genaue Todesursache. Bei Todesfällen an den Grenzen des DDR-„Bruderlandes“ Bulgarien etwa erfuhren die Familien in etlichen Fällen von den DDR-Behörden nicht einmal den genauen Ort der Bestattung ihrer Angehörigen.“ Zugänglich sind die Opferbiografien auch auf der Internetseite des Projekts. Zudem entstand eine Datenbank mit Videointerviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.

„Nur durch die internationale Kooperation mit Kolleginnen und Kollegen aus Polen, Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien und Österreich konnten die tödlichen Grenzzwischenfälle ausrecherchiert werden“, betont Jochen Staadt. „Wir sahen, wie in anderen Staaten die Aufarbeitung der kommunistischen Regime vorangekommen ist und konnten unsere Erfahrung einbringen.“

„Menschen beginnen wieder, die DDR zu verharmlosen und zu verklären“, so Schroeder, „darum müssen wir die Erinnerung an die brutale Herrschaft der SED wachhalten.“