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Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Grenzen

Europarechtler Christian Calliess, Freie Universität

09.04.2025

Christian Calliess, Professor für Verfassungs-, Umwelt- und Europarecht an der Freien Universität Berlin

Christian Calliess, Professor für Verfassungs-, Umwelt- und Europarecht an der Freien Universität Berlin
Bildquelle: Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU)

Unser Grundgesetz erklärt in Art. 5 Abs. 3 GG : "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei". Der besondere Schutz der Wissenschaft basiert auf dem auch vom Bundesverfassungsgericht immer wieder betonten Gedanken, dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft im Ergebnis am besten dient. In verfassungsrechtlicher Perspektive ist Wissenschaft durch den nach Inhalt und Form als ernsthaft und planmäßig anzusehenden Versuch zur Ermittlung der Wahrheit definiert. Daran knüpft die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und anderen Formen der Erkenntnisgewinnung und Kommunikation an. Wissenschaft zeichnet sich aus durch Rationalität. Nicht vom Begriff der Wissenschaft erfasst werden damit zum Beispiel Verschwörungstheorien und Pseudo-Wissenschaften.

Forschungs- und Lehrfreiheit, Publikationsfreiheit und ihre Grenzen

Ganz im Sinne des Humboldt’schen Ideals schützt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit zum einen die Forschung. Diese umfasst die freie Wahl der Fragestellung und Methode, die Bewertung der Forschungsergebnisse sowie deren Verbreitung in Form von Publikationen, Vorträgen und anderen Formaten. Zum anderen ist die Freiheit der Lehre geschützt, also die wissenschaftliche Vermittlung der gewonnenen Erkenntnisse. Lehrende sind damit grundsätzlich frei in der Bestimmung des Inhalts, des Ablaufs und der Wahl der methodischen Ansätze in ihren Lehrveranstaltungen.

Die Wissenschaftsfreiheit gilt für alle, die eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise tätig sind oder tätig werden wollen. Geschützte Personen sind nicht etwa nur Professorinnen und Professoren, sondern auch Habilitierende, Promovierende und Studierende, etwa bei der Forschung im Rahmen einer Bachelor- oder Masterarbeit. Geschützte Räume sind nicht nur Universitäten, sondern auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Privathochschulen. Diese können sich aber nur gegenüber dem Staat auf ihre Wissenschaftsfreiheit berufen, nicht aber gegenüber ihren Forschenden und Lehrenden, denn im Verhältnis zu diesen sind die Hochschulen selbst verpflichtet, die Wissenschaftsfreiheit zu achten. Beispiele für rechtfertigungspflichtige Beschränkungen der Wissenschaftsfreiheit sind das Verbot bestimmter Forschungsprojekte bzw. -themen (z. B. Zivilklauseln), besondere Genehmigungserfordernisse für die Forschung (z. B. Ethikkommissionen) oder auch universitäre Vorschriften hinsichtlich der Verwendung einer bestimmten Sprache.

Zugleich trifft den Staat eine Schutzpflicht gegen Beeinträchtigungen der Wissenschaftsfreiheit durch private Dritte. Und schließlich hat der Staat ein unabhängiges und funktionierendes Wissenschaftssystem zu gewährleisten. Zugleich haben die Universitäten Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen freie Forschung und Lehre praktisch möglich ist.

Auf den ersten Blick wird die Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz zwar ohne Vorbehalte und damit scheinbar absolut gewährleistet. Grenzen können sich jedoch aus anderen Schutzgütern der Verfassung ergeben. Hierzu zählt beispielsweise der Schutz der Grundrechte Dritter oder auch der Umwelt- und Tierschutz. Gefordert ist dann eine Abwägung mit dem Ziel, einen schonenden Ausgleich der Interessen herbeizuführen. Einzig für die Lehrfreiheit gibt es mit der Verfassungstreue eine explizite Schranke, sodass Lehrveranstaltungen nicht über wissenschaftlich fundierte Kritik am Grundgesetz hinaus zur verfassungsfeindlichen Agitation missbraucht werden dürfen. Damit korrespondiert die politische Treuepflicht der verbeamteten Professorinnen und Professoren, die die geltende Verfassungsordnung als schützenswert anerkennen, sich zu ihr bekennen und für sie eintreten müssen. Hingegen kommt dem beamtenrechtlichen Mäßigungsgebot nur dort eine Bedeutung zu, wo sie sich jenseits ihrer Fachgrenzen äußern.

Abgrenzung zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Leitlinien einer komplexen und sensiblen Gratwanderung

Zwischen Wissenschaftsfreiheit einerseits und der in Art. 5 Abs. 2 GG geschützten Meinungsfreiheit anderseits gibt es Überschneidungen, beide stellen für die Demokratie bedeutsame Kommunikationsgrundrechte dar. Eine Abgrenzung ist notwendig, da die Meinungsfreiheit im Vergleich zur Wissenschaftsfreiheit leichter eingeschränkt werden kann. Für den Staat und die Universität ist es „einfacher“ auf die Äußerung eines Wissenschaftlers zu reagieren, wenn es sich bei dieser um eine Meinung und nicht um eine wissenschaftliche Äußerung handelt. Problematisch ist beispielsweise, wenn von Professoren Verschwörungstheorien unter dem Schleier der Wissenschaftlichkeit verbreitet werden. Dabei ist eine Grenzziehung nicht einfach, was es auch für Hochschulleitungen schwierig macht, auf die Äußerungen ihrer Hochschulmitglieder – z. B. durch eine öffentliche Positionierung oder Distanzierung – zu reagieren. Meinungen sind in erster Linie Werturteile. Sie sind unabhängig davon geschützt, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind oder als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Auch Tatsachenbehauptungen werden geschützt, soweit sie Voraussetzungen der Meinungsbildung sind und nicht bewusst unwahr als Lüge geäußert werden. Wissenschaftliche Äußerungen zeichnen sich demgegenüber gerade durch ihre Rationalität aus, sie haben einen objektiven Richtigkeitsanspruch, der eng mit der Expertise des Faches verknüpft ist. Äußert sich also z. B. ein Wissenschaftler außerhalb seiner eigenen fachlichen Qualifikation, deutet dies eher auf eine Meinungskundgabe, nicht aber auf eine wissenschaftliche Äußerung hin. Die Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen Äußerung und einer Meinungskundgabe ist in einer Zeit, in der die Wissenschaft eine zunehmend präsente Rolle in der Öffentlichkeit einnimmt und es vermehrt dazu kommt, dass die Universität zum Austragungsort politischer Konflikte wird, von besonderer Relevanz.

Damit ist zugleich ein weiteres Spannungsverhältnis angesprochen, das das Verhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungs- und Demonstrationsfreiheit im Kontext der Universität anspricht. Mit Protesten auf dem Campus oder im Hörsaal wenden sich Studierende mitunter gegen Lehr- oder Vortragsveranstaltungen, deren personale Zusammensetzung oder die darin geäußerten Ansichten, manchmal fordern sie dabei ein bestimmtes Verhalten der Universitätsleitung ein. Die Versammlungsfreiheit gilt auch auf dem Campus öffentlicher Universitäten, nicht aber in Hörsälen und Seminarräumen, jedenfalls wenn sie für Lehrveranstaltungen genutzt werden. Hier gilt "nur" die Meinungsfreiheit.

Maßnahmen gegen Studierendenproteste auf dem Campus der Universität seitens der Polizei greifen zwar in die Versammlungsfreiheit der Studierenden ein, sie können jedoch insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn sie dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit vor Störungen in Vorlesungen oder Vortragsveranstaltungen dienen. Mit dieser staatlichen Schutzpflicht korrespondiert das Hausrecht der Universitätsleitung, das an die Fachbereiche und Professuren delegiert sein kann. Im Rahmen der Abwägung ist insbesondere das Ausmaß der Störung der Lehrveranstaltung miteinzubeziehen. Relevant ist beispielsweise, ob es sich um eine kurze Ansage vor oder nach einer Veranstaltung handelt oder aber deren Durchführung insgesamt gestört oder gar verhindert wird. Es geht um Verhältnismäßigkeit. Denn der demokratische Rechtsstaat prägt auch die Rahmenbedingungen der Wissenschaftsfreiheit.

Weitere Informationen

Website Univ.-Prof. Dr. Christian Calliess LL.M. Eur