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Herausforderung Regionalwissenschaften: das Beispiel Lateinamerika

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lateinamerika-Institut Karina Kriegesmann, Freie Universität

04.04.2025

Dr. Karina Kriegesmann ist Historikerin am Lateinamerika-Institut.

Dr. Karina Kriegesmann ist Historikerin am Lateinamerika-Institut.
Bildquelle: Chr. Demarco

Die gegenwärtig intensiv geführten Debatten um die Verteidigung der Wissenschaftsfreiheit und eine verantwortungsvolle internationale Zusammenarbeit sind nicht neu. Sie weisen insbesondere an der Freien Universität Berlin, die sich seit ihrer Gründung 1948 dem unabhängigen Lehren und Forschen sowie dem freien akademischen Austausch verpflichtet fühlt, eine komplexe Geschichte auf. Den unverzichtbaren und vielfach herausgeforderten Regionalwissenschaften kommt dabei seit jeher eine zentrale Rolle zu.

Die Bedeutung der Area Studies lässt sich in der Mitte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Lateinamerikastudien aufzeigen. Enge akademische und persönliche Verbindungen – oftmals durch Erfahrungen im Exil geprägt – sowie politisch unterstützte Kooperationen zwischen Wissenschaftler*innen aus Lateinamerika und West-Berlin trugen seit den 1960er-Jahren wesentlich zu ihrer Institutionalisierung bei. Gleichzeitig bildete sich das Interesse einer zunehmend mobilisierten Studierendenschaft an den Ländern der damals sogenannten „Dritten Welt“ in einer intensiven Auseinandersetzung mit radikalen Ansätzen und dem kritischen Hinterfragen bestehender Deutungsmuster ab. Diese Dynamiken führten an der Freien Universität zu teils heftigen Kontroversen, die immer wieder Abwägungen und Debatten darüber erforderlich machten, was verhandelbar war und was nicht, wo es Gegenwehr und Proteste gab, was in welcher Situation sagbar war und was eher nicht – ein Balanceakt um das Finden, Verteidigen und Ausbalancieren einer verantwortungsbewussten Linie in aufgeregten Zeiten, an dem verschiedene universitäre Gruppen, politische Entscheidungsträger*innen, internationale Partnerinstitutionen und Medien beteiligt waren.

Angesichts der Diktaturen, Gewalt und sozialen Ungleichheiten etwa in Argentinien, Brasilien und Chile nahm das öffentliche und akademische Interesse an Lateinamerika in den 1970er- und 1980er-Jahren deutlich zu. Im Universitätsarchiv befinden sich verschiedene Quellen, die die vielfältigen Formen kritischer Selbstreflexion über Werte und Positionierungen in einem politisch wie gesellschaftlich aufgeladenen Diskursraum sowohl auf West-Berliner als auch auf globaler Ebene dokumentieren.

Innerhalb des Lehrbetriebs kam es beispielsweise zu Auseinandersetzungen über bestimmte Formulierungen im Vorlesungsverzeichnis: Während manche eine Beschreibung der argentinischen Gewerkschaftsbürokratie mithilfe – ihrer Einschätzung nach – sachlich gerechtfertigter Adjektive befürworteten, sahen andere darin ideologische Kommentare.

Eine zentrale Frage war zudem, ob – und wenn ja, in welcher Weise – sich Hochschulleitungen oder Gremien, faktisch ohne ein politisches Mandat, öffentlich zur Situation in Südamerika äußern konnten, sollten oder durften. Besonders nach dem Militärputsch in Chile 1973 war das Thema Menschenrechtsverletzungen präsent. Viele Universitätsangehörige zeigten ihre Solidarität mit geflüchteten Studierenden und Wissenschaftler*innen.

Die internationale Zusammenarbeit war – und ist – in ihrer praktischen Umsetzung oftmals eine Herausforderung. Rückblickend stellten Forscher*innen in einem Abschlussbericht etwa für sich fest, sich im Rahmen eines Projekts nicht ausreichend für bedrohte Kolleg*innen in Chile engagiert zu haben. Mitglieder einer Projektgruppe hegten die begründete Annahme, dass sie aufgrund ihrer sicherheitspolitisch als verdächtig eingestuften Forschungsinteressen in Brasilien nicht uneingeschränkt wissenschaftlich hatten arbeiten können. Diese Erfahrungen führten zu einer wichtigen Erkenntnis: Die Freiheit der Wissenschaft ist ein hohes Gut – und keineswegs selbstverständlich.

Weitere Informationen

Aktuelles Forschungsprojekt: Wissenschaftsfreiheit unter Druck - Die Westberliner Lateinamerikastudien im Spannungsfeld des Kalten Krieges (1960er- bis 1980er-Jahre)

Website Dr. Karina Kriegesmann