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Vom Warten auf das Glück

Samuel-Fischer-Gastprofessor Viktor Jerofejew erklärte bei seiner Antrittsvorlesung am Peter Szondi-Institut das Wesen der russischen Literatur

10.06.2015

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew und Claudia Olk, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter-Szondi-Institut. In seiner Antrittsvorlesung näherte sich Jerofejew der Seele der russischen Literatur.

Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew und Claudia Olk, Professorin für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft am Peter-Szondi-Institut. In seiner Antrittsvorlesung näherte sich Jerofejew der Seele der russischen Literatur.
Bildquelle: Nora Lessing

Viktor Jerofejew hat die Samuel-Fischer-Gastprofessur inne.

Viktor Jerofejew hat die Samuel-Fischer-Gastprofessur inne.
Bildquelle: Nora Lessing

„In Russland warten alle auf das Glück“, sagte Viktor Jerofejew bei seiner Antrittsvorlesung als Samuel-Fischer-Gastprofessor am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Seit vielen Jahren schon beschäftigt sich der russische Autor und Intellektuelle, der zwischenzeitlich auch eine Talkshow moderierte, mit der Literatur seines Heimatlandes; seine Dissertation schrieb er über Dostojewski, seiner Antrittsvorlesung in Dahlem gab er den Titel „Writing in Russia". Das den umfangreichen russischen Textkorpus verbindende Element sei das Prinzip Hoffnung, erklärte der Schriftsteller.

„Das Fundament der russischen Literatur ist die Annahme, dass der Mensch gut ist, nicht aber seine Lebensbedingungen“, erklärte Jerofejew. Auf diesem Umstand gründe das revolutionäre Potenzial der russischen Literatur. „Immer wieder trifft man beim Lesen auf diese süßliche Utopie. Eine der Kernaussagen ist, dass du die Welt verändern kannst.“ Damit unterscheide sich die russische Literatur fundamental von allen anderen Literaturen, so der Wissenschaftler. „Ihr Adressat ist meistens die Masse der Unterdrückten, und sie basiert auf einer Philosophie der Hoffnung.“ Dies sei insbesondere für die russische Literatur des 19. Jahrhunderts charakteristisch. Darin finde sich der Gedanke, dass das Böse die Menschen zwar heimsuche, diese aber, solange sie nur dagegen ankämpften, siegreich aus dieser Begegnung hervorgehen müssten.

Russische Hoffnung: Morgen muss alles besser sein

Deswegen unterschieden sich russische Prosatexte von vielen Texten der französischen Literatur, erklärte der Literaturprofessor, der vor Antritt der Dahlemer Gastprofessur an der Moscow State University tätig war. „Französische Autoren beschäftigen sich häufig mit der Analyse der menschlichen Natur. Dabei geht es nicht darum, die Welt zu verändern, sondern um Introspektion, darum, sich selbst als Menschen zu verstehen.“

Russische Literatur hingegen zeichne sich dadurch aus, dass jeder darin auftauchende Diskurs „vom Licht der Zukunft durchdrungen“ sei. „Morgen muss alles besser sein als heute, und es gibt keinen Weg zurück.“ Dies bedeute im Übrigen nicht, dass alle russischen Autoren eine Revolution anstrebten, so Jerofejew. Grundsätzlich aber zeige sich in diesen Texten ein großer Wille zur gesellschaftlichen Veränderung.

„Identität von Physiognomie und Charakter"

Ein weiteres charakteristisches Merkmal der russischen Literatur sei die Identität von Physiognomie und Charakter. „Schönheit und Moral sind in der russischen Literatur aneinander gekoppelt“, erklärt Viktor Jerofejew. „Hässliche Figuren können nicht gut sein. Denken Sie an die hässlichen Ohren des Karenin in Tolstois ‚Anna Karenina‘.“ Das Aussehen der Charaktere zeige dem Leser, was er von einer bestimmten Figur zu halten habe. Allerdings gelte auch das Gegenteil: „Ist ein Charakter besonders schön, ist das auch wieder verdächtig. Man könnte sagen, die russische Literatur wählt in dieser Hinsicht den buddhistischen Mittelweg.“

Auch das alltägliche Leben in Russland – jenseits der Literatur – sei geprägt vom Warten auf das Glück, resümierte Jerofejew, der sich selbst als kritischen Beobachter seines Landes begreift. „Alle warten auf das Glück. Es kommt zwar nie, aber die Menschen halten dennoch daran fest.“ Im Moment sei es, wie auch schon zu Dostojewskis Zeiten, riskant, als Schriftsteller in Russland zu leben, so Jerofejew: „Ich kenne keinen russischen Schriftsteller, der sagt, dass er im gegenwärtigen Russland leben möchte.“

Jerofejew hält ein Seminar mit dem Titel „Writing as the unhuman revolution“

An Berlin schätzt Jerofejew die große kulturelle Offenheit. „Viele Jahre war Deutschland für mich ein Transitland zwischen Moskau und Paris.“ Derzeit freut er sich über die rege Beteiligung der Studierenden in seinem Seminar „Writing as the unhuman revolution“. Und kündigt an: „Vielleicht werde ich nach Semesterende ein Buch über meine Zeit als Professor in Berlin schreiben.“