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Zu Gericht im Theater

Juraprofessor Helmut Aust hat mit Erstsemesterstudierenden eine Vorstellung von Ferdinand von Schirachs Stück „Terror" im Deutschen Theater besucht

31.01.2017

Timo Weisschnur spielt den angeklagten Piloten Lars Koch in der Inszenierung am Deutschen Theater Berlin.

Timo Weisschnur spielt den angeklagten Piloten Lars Koch in der Inszenierung am Deutschen Theater Berlin.
Bildquelle: Arno Declair

Diesmal sitzen sie nicht im Hörsaal in Dahlem, sondern sind Theaterpublikum in Mitte: Etwa 500 Studentinnen und Studenten der Freien Universität, die im ersten Semester Jura studieren, sollen entscheiden: Verurteilung oder Freispruch? Der auf einem Theaterstück von Ferdinand von Schirach basierende Fernsehfilm „Terror" hat im vergangenen Herbst die Gemüter vieler Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz bewegt.

In Berlin wird von Schirachs moralische und juristische Versuchsanordnung am Deutschen Theater gezeigt: Terroristen entführen ein Flugzeug mit 164 Passagieren an Bord. Die Maschine nimmt Kurs auf ein ausverkauftes Fußballstadion mit 70.000 Zuschauern. Ein Luftwaffenpilot der Bundeswehr muss reagieren – und entscheidet sich: Er schießt das Flugzeug ab. Kann diese Handlung moralisch geboten sein oder muss sie strafrechtliche Folgen haben? Henriette Teske, seit Oktober Jurastudentin an der Freien Universität, berichtet von einem Theaterabend, an dem es um Würde, Schuld und ums Menschsein geht.

Major Lars Koch sitzt in der Mitte der Bühne auf einem Stuhl, die Staatsanwältin attackiert ihn: Er habe doch einen Befehl bekommen. Und der habe gelautet, nicht zu schießen. Auch das Bundesverfassungsgericht habe für eben jenen Fall entschieden: Ein Eingriff in das Grundrecht auf Leben unter Missachtung der menschlichen Würde, die das Grundgesetz jedem Menschen garantiert, könne nicht geduldet werden. Unter keinen Umständen. Mit dem Abschuss würden die Insassen zu Objekten gemacht, das habe er doch gewusst.

Aber sie wären doch in jedem Fall gestorben, entgegnet Koch. Und beim Besteigen des Flugzeugs hätten sie sich dieser Gefahr sozusagen freiwillig ausgesetzt. „Aber", fragt die Staatsanwältin, „hätten Sie auch geschossen, wenn ihre Frau und ihr Kind im Flugzeug gewesen wären?" Koch schweigt.

Seine Anwältin plädiert für „nicht schuldig!": „Sollen wir ihn bestrafen, obwohl er Menschenleben gerettet hat?" Die Staatsanwältin wolle Grundsätze über die Gerechtigkeit im Einzelfall stellen – lebenslänglich aus Prinzip! Dass ihr Mandant Menschen gegeneinander aufgerechnet hat, dass er Leben gegen andere Leben abgewogen hat, umgeht die Anwältin. Ein solches Aufrechnen aber kann rechtlich nicht legitimiert sein. Aus unseren Strafrechtsvorlesungen wissen wir alle im Theatersaal: Die Rechtfertigung einer Tat wird unmöglich, wenn ein Leben gegen ein anderes Leben steht.

Plötzlich Farbe auf der Bühne. Die Frau eines Verunglückten aus dem Flugzeug taucht auf. In Orange. „Und ich musste die ganze Zeit an meinen Sohn zu Hause denken ...", sagt sie und blickt ins Leere. Das macht uns Zuschauerinnen und Zuschauern schnell wieder klar: In diesem Fall geht es nicht nur um Paragrafen, Artikel und die besseren Argumente. Es geht um Menschen.

Jetzt ist Pause. Das Publikum muss sich entscheiden, wir müssen uns entscheiden: Schuldig? Unschuldig? Der Fall polarisiert, in unserer Gruppe wird heftig diskutiert. Die staats- und strafrechtlichen Grundproblematiken sind uns aus einer auf den Theaterabend vorbereitenden Veranstaltung bekannt, weitere sind im Laufe des Abends hinzugekommen.

Dann das Urteil: etwa 60 Prozent der Zuschauerinnen und Zuschauer sind durch die Saaltür mit der Aufschrift „Unschuldig" zurückgekehrt, die anderen durch die Tür mit dem Etikett „Schuldig". Nach der Vorstellung treten wir ins Freie, halten die erhitzten Köpfe in die eiskalte Januarnacht. Zwei Sätze der Richterin aus den ersten Minuten des Theaterstücks bleiben in meinem Kopf: Heute müssten wir urteilen, über einen Menschen. Aber wir sollten auch selbst Menschen bleiben bei diesem Urteil.