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Heilung und Tanz

Die ägyptische Tänzerin und Schriftstellerin Nora Amin verarbeitet Traumata mithilfe von Tanz-Choreografien / Sie lehrt in diesem Semester als Valeska-Gert-Gastprofessorin an der Freien Universität

01.07.2018

Nora Amin hat die Valeska-Gert-Gastprofessur inne. Im Wintersemester 2004/05 war die Tänzerin, Choreografin und Schriftstellerin bereits als Samuel-Fischer-Gastprofessorin für Literatur an der Freien Universität.

Nora Amin hat die Valeska-Gert-Gastprofessur inne. Im Wintersemester 2004/05 war die Tänzerin, Choreografin und Schriftstellerin bereits als Samuel-Fischer-Gastprofessorin für Literatur an der Freien Universität.
Bildquelle: Jacob Stage

Nora Amin ist ganz still. Dann beginnt sie sich langsam zum Klang einer Leier zu bewegen. Als die Musik schneller wird, werden auch Amins Bewegungen schneller. Sie stößt die Arme nach vorn und windet sich um die eigene Achse. Barfuß, in einem schwarzen Kleid, steht sie da. Ihr Gesicht zeigt ein stummes Weinen, ein Wehklagen. Die Musik wird wild, und Amin springt im Kreis der Zuschauer umher, legt sich auf den Boden, reckt die Beine in die Luft und nimmt eine Embryonalstellung ein. Dann springt sie wieder auf, schreit, schüttelt wild den Kopf und streckt die Arme in die Luft.

Ein Video, aufgenommen 2014 in Kairo, zeigt Nora Amin bei ihren Tanzarbeiten. Bewegung, Mimik und Laute übersetzen das Leiden, das sie umtreibt, in eine sicht- und hörbare Darstellung. Mit ihrer Kunst will die Tänzerin und Schriftstellerin Nora Amin Traumata bewältigen. „Wenn diese Tänze vor Zuschauern aufgeführt werden, bringen sie das Geschenk des Teilens und Austausches mit sich, und sie werden noch machtvoller“, erklärt die Künstlerin. Denn die Aufführungen seien ein öffentliches Bekenntnis, durch welches innerer Schmerz besiegt werden könne.

Tänzerin, Theatermacherin, Schriftstellerin

Nora Amin hat in diesem Sommersemester die Valeska-Gert-Gastprofessur übernommen, die von der Freien Universität, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Akademie der Künste Berlin getragen wird. Gemeinsam mit Studierenden entwickelt die Tänzerin Choreografien, die allesamt das Ziel haben, schwere, schicksalhafte Ereignisse in Körperlichkeit und Bewegung zu übersetzen und so zu verarbeiten. Es ist nicht das erste Mal, dass Amin ihre Kunst an andere Menschen weitergibt. So war sie 2007 Mitveranstalterin eines Workshops für weibliche Opfer des Bürgerkriegs im Sudan.

Nora Amin begann ihre künstlerische Arbeit in der Theater- und Tanzszene Ägyptens. Am Cairo Opera House gründete sie eine eigene Theatergruppe, die Modern Dance Company. Außerdem arbeitete sie als Dozentin und Übersetzerin an der Kunstakademie Kairo. Und sie schreibt Bücher. Zuletzt ist das Sachbuch „Weiblichkeit im Aufbruch“ erschienen, in dem sie sich mit den patriarchalen Strukturen der arabischen Gesellschaft auseinandersetzt.

Inferno verändert alles

Den Tanz zur Bewältigung von Traumata entwickelte sie nach einer Tragödie, die die gesamte ägyptische Theaterwelt schockierte: Im September 2005 brannte es in einem Theater in Bani Suwaif, einer Stadt im Süden Ägyptens. 46 Menschen starben, viele weitere wurden schwer verletzt. „Der Unfall war Resultat klarer staatlicher Nachlässigkeit“, sagt Nora Amin. Weder habe es einen Brandschutz gegeben, noch effektive Löschmaßnahmen. Die Krankenhäuser seien auf die vielen Verletzten nicht vorbereitet gewesen.

Die Familien der Opfer führten eine Klage gegen die verantwortlichen Ministerien, bekamen aber keine Gerechtigkeit. Das versetzte die Theaterszene in Aufruhr. Viele Theatermacher wehrten sich dagegen, dass die Regierung basale Rechte missachtete, und gingen auf die Straße. Manche hielten dabei eine Kerze in der Hand, als Symbol der Trauer und als Erinnerung an die Ursache des Feuers, das durch eine umgefallene Kerze ausgelöst worden war. Rückblickend bezeichnet Amin den Protest als „Vorahnung auf den Arabischen Frühling“.

Jeder Tanz ist einzigartig

Nora Amins Arbeit ist also nicht nur als Traumabewältigung zu verstehen, sondern auch als politischer Protest. Amin ist aber auch Wissenschaftlerin, und sie setzte ihre theoretischen und praktischen Studien im Austausch mit den Berliner Studierenden fort. „Ich bin sehr glücklich über meinen Kurs, der schon viel Erfahrung hat“, sagt sie. Zunächst erarbeitete sie mit ihren Studierenden Bewegungsmodelle, und experimentierte, wie Schmerz, Überleben oder Widerstand durch Bewegungen gezeigt werden können. Auf Basis der Modelle entwickelten ihre Studierenden schließlich Choreografien.

Nora Amin betont, dass es wichtig sei, die Individualität der Studierenden anzuerkennen und ihre Vorgehensweisen, eigene Erfahrungen zu verkörpern, wertzuschätzen. „Jeder Mensch tanzt anders. Es ist wichtig, den eigenen Weg zu finden.“ Am Ende ihrer Workshops seien die Tänze meist sehr unterschiedlich. Gemeinsam sei Ihnen jedoch, dass sie das Unausgesprochene und das Ungehörte sichtbar machen. So könnten die Menschen ihre Würde wiedererlangen.

Weitere Informationen

Abschlussveranstaltung der Valeska-Gert-Gastprofessur

Zeit und Ort

  • Montag, 2. Juli 2018, 19.00 Uhr
  • Akademie der Künste (Blackbox) Pariser Platz 4, 10117 Berlin (S- und U-Bhf. Brandenburger Tor, Bus TXL, Bus 100, Bus 200