Zwölf Stolpersteine für die Familie Merory
Studierende des Osteuropa-Instituts haben im Rahmen von Seminaren zur „Polenaktion“ zwölf Stolpersteine verlegen lassen / Amerikanische und deutsche Nachfahren der Familie Merory lernten sich kennen
14.08.2018
Zwei Bauarbeiter knien auf dem Gehweg vor dem Haus in der Friedrichstraße 2. Sie stemmen das Pflaster auf, lassen fünf messingbeschlagene Betonquader ein, hantieren mit Meißel und Sand. Um die neu gesetzten Stolpersteine stehen die deutschen und amerikanischen Nachkommen der Familie Merory: Pamela Dernham, deren Cousin Martin Rafanan und Großcousin Joachim Merory und viele weitere Verwandte. Sie legen Rosen um die Gedenksteine, weinen und umarmen sich. Sie stehen vor dem Haus, in dem seit den 1920er Jahren ihre Großeltern Martin und Ella Merory mit den Töchtern Liselotte, Margarete und Eva gelebt haben. Aus einem Lautsprecher singt Marvin Gaye von Liebe, die den Hass überwindet.
Die Merorys waren ein Schauspielerehepaar. Martin stand für Erwin Piscator und Bertolt Brecht auf der Bühne und arbeitete mit Schauspielgrößen wie Ernst Busch und Helene Weigel zusammen. 1918 heiratete er die nichtjüdische Schauspielerin Ella Sarge, die aus einer Familie von Theaterschaffenden stammte.
Vom 27. bis zum 29. Oktober 1938 verhafteten die Nationalsozialisten rund 17.000 Juden polnischer Staatsangehörigkeit im ganzen Reich und verschleppten sie an die polnische Grenze. In Berlin waren davon rund 1500 jüdische Bewohner betroffen – darunter auch mehrere Angehörige der Familie Merory. „Damals wurde die Familie zerrissen“, sagt die Historikerin Alina Bothe, die zusammen mit Professorin Gertrud Pickhan und mit Studierenden der Freien Universität das Schicksal von mehr als zwanzig der 1938 deportierten jüdischen Familien rekonstruiert und in Erinnerung gerufen hat. Bis zum Ende des Jahres werden die Ergebnisse der Forschungsarbeit in einer Ausstellung im Centrum Judaicum gezeigt. Am 24. Juli wurden an zwei Berliner Orten zwölf Stolpersteine für die Familie Merory verlegt. Die Nachfahren aus den USA und Deutschland haben erst im Zuge des studentischen Forschungsprojekts voneinander erfahren und trafen sich nun zum ersten Mal.
Aus dem Tritt kommen und verbeugen
Martin Merorys Schicksal nach der Deportation ist bis heute ungewiss. Seine drei Töchter wurden 1943 in das KZ Sachsenhausen verschleppt und anschließend zu Zwangsarbeit in einen Berliner Rüstungsbetrieb überstellt. Ende der vierziger Jahre wanderten sie in die USA aus. Martin Merorys Bruder Walter wurde 1942 in der NS-Tötungsanstalt Hartheim ermordet. Für ihn wurde im September 2017 ein Stolperstein in Berlin-Steglitz verlegt. Seine Frau war bereits 1939 verstorben, die gemeinsame Tochter überlebte bei nichtjüdischen Verwandten im Riesengebirge.
Joachim Merory, ein Enkel Walter Merorys, zog in den 1970er Jahren aus Freiburg nach Berlin – ohne zu wissen, dass seine Familie dreißig Jahre zuvor aus Berlin vertrieben worden war. „Meine Mutter Ingeburg sprach nicht von der Vergangenheit. Verdrängung war vielleicht ihre Art, mit dem Trauma umzugehen.“ Weder wusste der pensionierte Buchdrucker von den jüdischen Wurzeln seiner Familie noch von der Ermordung seines Großvaters. Vor dem Treffen mit seinen amerikanischen Verwandten habe er kaum schlafen können, erzählt er. Aber gleich beim ersten Blickkontakt habe er eine Verbindung festgestellt: „Ich bin normalerweise gefühlvoll wie ein Eisklotz, aber das Treffen hat mich tief berührt.“ Seine Familie sei praktisch über Nacht angewachsen. „Wir waren so herzlich miteinander, als ob wir uns schon ewig kennen würden.“
Schon lange bevor Joachim Merory ahnte, in welcher Weise ihn das Gedenken an die verschleppten und ermordeten Juden persönlich betrifft, gefiel ihm, wie die Stolpersteine den Stadtraum für das öffentliche Leidgedächtnis in Beschlag nehmen. Das Aus-dem-Tritt-kommen, Innehalten und sich zum Lesen Über-den-Stein-beugen ist für ihn die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Welt – und vielleicht für deren Verbesserung. Wenn man sich als aufmerksamer Fußgänger immer wieder mit den Toten und Vertriebenen konfrontiert sehe, werde überhaupt erst die Allgegenwärtigkeit des systematischen Unrechts während der Zeit des Nationalsozialismus erfahrbar gemacht, sagt Joachim Merory. „Dann sieht man mit eigenen Augen: Das Morden begann in meiner Straße!“ 6000 Stolpersteine finden sich mittlerweile über das gesamte Stadtgebiet verteilt, und es werden stetig mehr.
Umfassenderes Bild von der Vergangenheit
Dass mit zwölf Steinen nun an die Familie Merory erinnert werden kann, zeugt auch von Lara Büchels und Christine Meibecks leidenschaftlichem Engagement. Die beiden Studentinnen haben in vielen Archiven recherchiert, die Steine beantragt, die Verlegung organisiert – und die Familie Merory zusammengeführt.
„Das Forschungsprojekt ist ein großes Geschenk“, sagte Martin Merorys kalifornische Enkelin Pamela Dernham, die mit ihren expressiven Skulpturen aus Stahldraht die künstlerische Familientradition in der vierten Generation fortführt. „Lara Büchel und Christine Meibeck haben uns ein Stück unserer Familiengeschichte zurückgegeben.“ Dass das Leben ihrer Vorfahren mehr war als eine Reihe von Tragödien, das sei eine wertvolle Erinnerung.
Das Trauma der gewaltsamen Vertreibung durch die Nationalsozialisten hat sich auch auf die Kinder der Überlebenden übertragen: „Meine Mutter Eva hat sich die Schuld dafür gegeben, dass sie ihren Vater nicht retten konnte. Sie war nicht in der Lage, diese Schuldgefühle wie ein altes Kleid abzulegen“, sagte Pamela Dernham. Auch sie und ihre Schwester hätten diesen Schmerz verinnerlicht. Bei der Verlegung der Stolpersteine, sagte die Künstlerin, habe sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, dass die Trauer der Mutter, die in ihren Kindern weitergelebt habe, ruhen könne. „Sie wird nicht ganz verschwinden, aber sie kann ruhen.“
Wie seine Cousine Pamela Dernham erlebte auch Martin Rafanan aus Pittsburgh das Familientreffen als heilsam: „Es wühlt mich auf und spendet mir gleichzeitig Trost. Die verschiedenen Fäden einer Geschichte kommen wieder zusammen.“ Für den lutherischen Pfarrer bedeuten die zu Ehren seiner Vorfahren verlegten Stolpersteine die persönliche und kollektive Mahnung, die Achtung für die Würde des Anderen niemals aufzugeben. Und er versteht die Steine auch als Zeichen gegen Schlussstrichmentalitäten: „Erinnerung ist nicht etwas, das jemals abgeschlossen ist.“
Schon am Tag vor der Gedenksteinverlegung hatten die amerikanischen und deutschen Familienmitglieder gemeinsam zu Abend gegessen. „Wir haben uns nicht auf die Verletzungen unserer Eltern fokussiert, sondern wollten uns einfach kennenlernen“, so Martin Rafanan. Denn ihre Eltern, die Überlebenden der Shoah, hätten das Leben gewählt. Und dies habe auch die Richtung für die Familienzusammenführung gewiesen: Lechaim. Auf das Leben.
Weitere Informationen
Die Ausstellung Ausgewiesen! Berlin, 28.10.1938 – Die Geschichte der „Polenaktion“ im Centrum Judaicum zeigt die Geschichte von sechs jüdischen Familien während und nach ihrer Deportation durch die Nationalsozialisten. Die Ausstellung entstand in Kooperation des Osteuropa-Instituts der Freien Universität und dem Aktiven Museum Berlin, an der Recherche waren zahlreiche Studierende beteiligt. Zu sehen sind Dokumente der Verfolgung und Ermordung sowie private Familienfotos, die das Leben vor der Ausweisung und vom Weiterleben nach 1945 erzählen. Im Katalog zur Ausstellung, erschienen im Metropol Verlag, sind neun weitere von Studierenden verfasste Biographien enthalten.